Jede dieser Erfahrungen hatte sie weiter von der Königin entfernt, die sie einst gewesen war. Sie sehnte sich nicht länger nach schönen Dingen oder ihrem Thron. Sie wollte nur etwas Beständigkeit. Anscheinend war das eine Handelsware, die noch kostbarer als Gold war.
»Das spielt keine Rolle«, sagte Perrin und tippte auf die Karte. »Also, sind wir uns einig? Wir jagen hinter Gill und den anderen her, schicken mit Wegetoren Kundschafter aus, um sie nach Möglichkeit zu finden. Hoffentlich erwischen wir sie, bevor sie Lugard erreichen. Wie lange dauert es bis zu der Stadt, was meint Ihr, Arganda?«
»Kommt auf den Schlamm an«, sagte der sehnige Soldat. »Es gibt einen Grund, warum wir diese Jahreszeit Versumpfen nennen. Schlaue Männer reisen nicht während dieser Frühlingschmelze.«
»Weisheit ist für die, die Zeit dafür haben«, murmelte Perrin und zählte mit den Fingern die Distanz auf der Karte.
Morgase ging los, um Annouras Tasse aufzufüllen. Tee einzugießen war komplizierter, als sie j e gedacht hätte. Sie musste wissen, welche Tasse man zur Seite nehmen und dort nachfüllen musste, und welche man füllen konnte, solange sie sie hielten. Sie musste ganz genau wissen, wie weit sie eine Tasse füllen durfte, ohne dass sie überlief, und wie man den Tee eingießen musste, ohne gegen das Porzellan zu stoßen oder etwas zu verschütten. Sie wusste, wann man sie nicht wahrnehmen sollte und wann man ein kleines Schauspiel abziehen musste für den Fall, dass sie Leute übersehen, sie vergessen oder ihre Bedürfnisse falsch eingeschätzt hatte.
Vorsichtig hob sie Perrins Tasse vom Boden neben ihm auf. Er gestikulierte gern, wenn er sprach, und konnte ihr die Tasse aus der Hand schlagen, wenn sie nicht aufpasste. Alles in allem war Tee zu reichen eine erstaunliche Kunst – eine ganze Welt, die Morgase die Königin sich nie die Mühe gemacht hatte wahrzunehmen.
Sie füllte Perrins Tasse auf und stellte sie wieder neben ihm ab. Perrin stellte weitere Fragen über die Karte – in der Nähe befindliche Städte, potenzielle Möglichkeiten, sich zu versorgen. Er war ein vielversprechender Anführer, selbst wenn er ziemlich unerfahren darin war. Ein paar kleine Ratschläge von Morgase…
Sie verwarf den Gedanken. Perrin Aybara war ein Rebell.
Die Zwei Flüsse waren ein Teil von Andor, und er hatte sich zu seinem Lord ernannt, führte dieses Wolfskopfbanner. Wenigstens hatte man die Flagge von Manetheren eingeholt. Sie zu führen war so gut wie eine offene Kriegserklärung gewesen.
Morgase ärgerte sich nicht länger jedes Mal, wenn ihn jemand Lord nannte, aber sie hatte auch nicht vor, ihm Hilfe anzubieten. Nicht bis sie entschieden hatte, wie sie ihn wieder unter den Mantel der andoranischen Monarchie bekam.
Außerdem ist Faile schlau genug, um genau den Rat zu gehen, den ich auch gegeben hätte, gestand sich Morgase widerstrebend ein.
Tatsächlich war Faile eine perfekte Ergänzung für Perrin. Wo er eine stumpfe und gesenkte Lanze bei einem Sturmangriff war, verkörperte sie einen vielseitigen Kavalleriebogen. Aber es war die Kombination aus ihnen beiden – dazu kamen ja noch Failes Verbindungen zum saldaeanischen Thron -, die Morgase wirklich Sorgen bereitete. Ja, er hatte das Banner von Manetheren eingeholt, aber er hatte schon vorher befohlen, das Wolfskopfbanner abzunehmen. Oftmals war ein Verbot der beste Weg, um dafür zu sorgen, dass es erst recht geschah.
Alliandres Tasse war zur Hälfte geleert. Morgase beeilte sich nachzuschenken; wie viele hochgeborene Damen erwartete Alliandre immer, eine volle Tasse zu haben. Alliandre warf Morgase einen Blick zu, und da lag ein Hauch Unbehagen in ihren Augen. Alliandre war sich unsicher, wie ihre Beziehung aussehen sollte. Das war merkwürdig, war Alliandre während ihrer Gefangenschaft doch so hochmütig gewesen. Die Person, die Morgase einst gewesen war, die Königin, wollte Alliandre zur Seite nehmen und ihr in allen Einzelheiten erklären, wie sie ihre Erhabenheit überzeugender aufrechterhielt.
Sie würde es selbst lernen müssen. Morgase war nicht länger die Person, die sie einst gewesen war. Sie war sich nicht sicher, was sie war, aber sie würde lernen, wie sie als Dienerin einer Lady ihre Pflicht erfüllte. Das war zu einer Passion geworden. Eine Möglichkeit, sich selbst zu beweisen, dass sie noch immer stark war, noch immer etwas wert war.
In gewisser Hinsicht war es furchteinflößend, dass sie sich darüber Sorgen machte.
»Lord Perrin«, sagte Alliandre, als sich Morgase zurückzog. »Ist es wahr, dass Ihr meine Leute zurück nach Jehannah schicken wollt, nachdem Ihr Gill und seine Gruppe gefunden habt?«
Morgase ging an Masuri vorbei – die Aes Sedai wollte immer nur nachgeschenkt haben, wenn sie mit dem Fingernagel gegen die Tasse klopfte.
»Das ist richtig«, sagte Perrin. »Wir alle wissen, dass Ihr Euch uns eigentlich ja gar nicht anschließen wolltet. Hätten wir Euch nicht mitgenommen, wärt Ihr nie von den Shaido gefangen genommen worden. Masema ist tot. Es ist Zeit, dass Ihr wieder Eure Nation regiert.«
»Bei allem nötigen Respekt, mein Lord«, sagte Alliandre. »Warum rekrutiert Ihr meine Landsleute, wenn nicht für ein zukünftiges Heer?«
»Ich will niemanden rekrutieren. Nur weil ich sie nicht abweise, bedeutet das nicht, dass ich dieses Heer noch größer machen will.«
»Mein Lord«, sagte Alliandre. »Aber sicherlich ist es weise, das zu behalten, was Ihr da habt.«
»Da hat sie recht, Perrin«, fügte Berelain leise hinzu. »Man braucht doch nur in den Himmel zu schauen, um zu wissen, dass die Letzte Schlacht unmittelbar bevorsteht. Warum ihre Streitmacht zurückschicken? Ich bin überzeugt, dass der Lord Drache jeden Soldaten aus jedem ihm verschworenen Land brauchen wird.«
»Er kann nach ihnen schicken, wenn er sich dazu entscheidet«, sagte Perrin stur.
»Mein Lord«, sagte Alliandre. »Ich leistete nicht ihm einen Eid. Ich leistete Euch einen Eid. Wenn Ghealdan nach Tarmon Gai’don marschiert, sollte es das unter Eurem Banner tun.«
Perrin stand auf, was mehrere der Leute im Zelt überraschte. Wollte er gehen? Wortlos ging er zur offenen Seite des Pavillons und steckte den Kopf hinaus. »Will, kommt her«, rief er.
Ein Gewebe der Einen Macht verhinderte, dass man von draußen zuhören konnte. Morgase konnte Masuris verknotete Gewebe sehen, die das Zelt abschirmten. Ihre Kompliziertheit schien ihr minimales Talent in der Einen Macht zu verspotten.
Masuri klopfte an ihre Tasse, und Morgase beeilte sich, ihr nachzuschenken. Die Frau nippte gern an ihrem Tee, wenn sie nervös war.
Perrin wandte sich wieder den Versammelten zu, gefolgt von einem attraktiven Jungen, der ein zusammengewickeltes Tuchbündel trug.
»Entfaltet es«, befahl Perrin.
Der junge Mann gehorchte nervös. Der Wolfskopf erschien, der Perrins Zeichen war.
»Ich habe dieses Banner nicht gemacht«, sagte Perrin. »Ich wollte es nie, aber nach Ratschlägen habe ich es wehen lassen. Nun, die Gründe dafür sind vorbei. Ich befahl, das Ding einzuholen, aber das scheint nie lange zu funktionieren.« Er fixierte Will. »Will, ich will, dass das im Lager verbreitet wird. Ich gebe einen direkten Befehl. Ich will, dass jedes einzelne dieser verfluchten Banner verbrannt wird. Habt Ihr verstanden?«
Will erbleichte. »Aber …«
»Tut es einfach«, sagte Perrin. »Alliandre, Ihr leistet Rand den Lehnseid, sobald wir ihn finden. Ihr werdet nicht unter meinem Banner reiten, weil ich kein Banner habe. Ich bin Schmied, mehr nicht. Ich habe diesen Unsinn viel zu lange mitgemacht.«
»Perrin?«, fragte Faile. »Ist das klug?«
Dieser dumme Mann. Er hätte zumindest mit seiner Frau darüber sprechen sollen. Aber Männer waren nun einmal Männer. Sie liebten ihre Geheimnisse und Pläne.
»Ich weiß nicht, ob das klug ist. Aber ich tue es«, sagte er. » Geht, Will. Ich will, dass diese Banner heute Abend verbrannt sind. Es werden keine versteckt, verstanden?«