Er trat auf eine große, geschäftige Straße hinaus, die Hände in die Manteltaschen geschoben. In seiner Eile hatte er den Stock in der Schenke vergessen. Er knurrte leise; eigentlich sollte er sich tagsüber entspannen, die Nächte in guten Gasthäusern mit Würfeln verbringen und morgens lange schlafen, während er darauf wartete, dass die dreißig Tage Wartezeit, die Verin verlangt hatte, verstrichen. Und jetzt das.
Mit diesem Gholam hatte er noch eine Rechnung zu begleichen. Die Unschuldigen, die er um Ebou Dar herum dahingeschlachtet hatte, waren schlimm genug, und Mat hatte keineswegs Nalesean und die fünf Rotwaffen vergessen, die ebenfalls ermordet worden waren. Verfluchte Asche, das Monstrum hatte sich bereits für genug zu verantworten. Dann hatte es sich Tylin geholt.
Er zog die Hand aus der Tasche und tastete nach dem Fuchskopf-Medaillon, das wie immer auf seiner Brust ruhte. Er war es leid, vor dem Ungeheuer fortzulaufen. In seinem Kopf nahm ein Plan Gestalt an, begleitet vom Klappern der Würfel. Er versuchte das Bild der Königin zu verdrängen, die dort in den Fesseln lag, die Mat selbst geknüpft hatte, den Kopf vom Körper gerissen. Dort musste so viel Blut gewesen sein. Der Gholam lebte von frischem Blut.
Er fröstelte und schob die Hand wieder in die Tasche, während er sich dem Stadttor näherte. Trotz der Dunkelheit konnte er die Spuren der Schlacht sehen, die dort stattgefunden hatte. Eine Pfeilspitze, die in der Tür eines Gebäudes zu seiner Linken steckte, ein dunkler Flecken an der Wand eines Wärterpostens, der das Holz unter dem Fenster beschmutzte. Dort war ein Mann gestorben, vielleicht während er von innen eine Armbrust abgefeuert hatte, dann war er über den Fensterrahmen gesackt, und sein Blut war ins Holz gesickert.
Diese Belagerung war vorbei, und eine neue Königin – die richtige Königin – saß auf dem Thron. Endlich hatte es einmal eine Schlacht gegeben, die er verpasst hatte. Dieser Gedanke hellte seine Stimmung etwas auf. Um den Löwenthron war ein erbitterter Krieg geführt worden, und nicht ein Pfeil, Klinge oder Speer in diesem Konflikt war auf Matrim Cauthons Herz gezielt gewesen.
Er wandte sich nach rechts, ging an der Stadtmauer vorbei. Hier gab es viele Schenken. In der Nähe von Stadttoren gab es immer Schenken. Nicht unbedingt die ansehnlichsten, aber so gut wie immer die profitabelsten.
Licht strömte aus Fenstern und Türen und malte goldene Pfützen auf die Straße. Dunkle Umrisse drängten sich in den Gassen, ausgenommen nur bei den Gasthäusern, die Männer eingestellt hatten, um die Armen fortzuhalten. Caemlyn hatte Probleme. Eine Flut von Flüchtlingen, die Kämpfe vor gar nicht so langer Zeit, die… anderen Sachen. Es gab zahllose Geschichten über die wandelnden Toten, über Nahrung, die urplötzlich verdarb, über weißgestrichene Wände, die unversehens dreckig waren.
Die Schenke, in der Thom auftrat, war ein Gebäude mit Giebeldach und Ziegelfassade, deren Schild zwei Äpfel zeigte, von denen der eine bis auf sein Kerngehäuse abgenagt war. Das machte ihn sehr hell, während der andere dunkelrot war die Farben der andoranischen Flagge. Die zwei Äpfel war eines der besseren Etablissements in dieser Gegend.
Er konnte die Musik schon von draußen hören. Er trat ein und entdeckte Thom auf einem kleinen Podest am anderen Ende des Gastraums, wo er Flöte spielte und seinen bunten Gauklerumhang trug. Er spielte mit geschlossenen Augen, sein Schnurrbart hing lang und weiß über beide Seiten des Instruments. Es war eine melancholische Melodie, »Die Heirat von Cinny Wade«. Mat hatte sie als »Wähle immer das richtige Pferd« kennengelernt und sich noch immer nicht an die langsame Weise gewöhnt, auf die Thom sie spielte.
Vor dem Gaukler lag eine kleine Sammlung von Münzen auf dem Boden verteilt. Die Wirtin erlaubte ihm, für Trinkgeld zu spielen. Mat blieb in der Nähe der Tür stehen und lehnte sich an, um zuzuhören. Niemand sprach im Gastraum, obwohl er so voll war, dass Mat allein mit den anwesenden Männern eine halbe Kompanie Soldaten hätte aufstellen können. Alle Blicke waren auf Thom gerichtet.
Mat war schon überall auf der Welt gewesen, hatte einen großen Teil auf den eigenen beiden Füßen bereist. In einem Dutzend verschiedener Städte hätte er fast seine Haut verloren, und er war in allen möglichen Gasthäusern abgestiegen. Er hatte Gaukler, Schauspieler und Barden gehört. Thom ließ den ganzen Haufen wie Kinder mit Stöcken aussehen, die auf Töpfen herumhämmerten.
Die Flöte war ein einfaches Instrument. Viele Adlige würden die Harfe vorziehen; in Ebou Dar hatte ein Mann Mat einmal erzählt, dass die Harfe »erhabener« war. Vermutlich wären ihm die Augen aus dem Kopf gefallen und der Mund offen stehen geblieben, hätte er Thom spielen gehört. Leise Triller, Molltöne und mächtige mutige Töne. Eine so klagende Melodie. Um wen trauerte Thom?
Das Publikum sah zu. Caemlyn war eine der größten Städte auf der Welt, trotzdem erschien die Vielseitigkeit einfach unglaublich. Kernige Illianer saßen neben aalglatten Domani, stämmigen Tairenern und ein paar Grenzländern. Man betrachtete Caemlyn als einen der wenigen Orte, wo man sowohl vor den Seanchanern wie vor dem Drachen sicher war. Hier gab es auch etwas zu essen.
Thom beendete das Lied und ging zum nächsten über, ohne die Augen zu öffnen. Mat seufzte, denn er störte Thoms Auftritt nur ungern. Leider war es Zeit, ins Lager zurückzukehren. Sie mussten über den Gholam sprechen, und Mat musste eine Möglichkeit finden, Elayne zu erreichen. Vielleicht würde Thom in seinem Namen zu ihr gehen.
Mat nickte der Wirtin zu – einer stattlichen, dunkelhaarigen Frau namens Bromas. Sie erwiderte den Gruß, ihre großen Ohrringe funkelten im Licht. Sie war etwas älter, als ihm sonst gefiel – andererseits war Tylin in ihrem Alter gewesen. Er würde sie im Kopf behalten. Natürlich für einen seiner Männer. Vielleicht Vanin.
Er erreichte die Bühne und fing an, die Münzen einzusammeln. Er würde Thom zum Ende kommen lassen und dann …
Seine Hand zuckte. Plötzlich war sein Arm mit der Manschette an die Bühne genagelt; ein Messer hatte den Stoff durchbohrt. Das schmale Stück Metall vibrierte noch. Er schaute auf. Thom spielte immer noch, allerdings hatte der Gaukler ein Auge einen Spaltbreit geöffnet, bevor er das Messer warf.
Thom spielte weiter, ein Lächeln auf den gespitzten Lippen. Mat riss grummelnd den Ärmel frei und wartete, bis Thom die Melodie beendete, die nicht so traurig wie ihre Vorgängerin war. Als der schmächtige Gaukler die Flöte senkte, brach stürmischer Applaus los.
Mat schenkte ihm einen finsteren Blick. »Soll man dich doch zu Asche verbrennen, Thom. Das ist einer meiner Lieblingsmäntel! «
»Sei froh, dass ich nicht auf die Hand zielte«, bemerkte Thom, wischte die Flöte ab und bedankte sich mit einem Nicken für den jubelnden Applaus der Schenkengäste. Sie riefen ihm zu, doch weiterzumachen, aber er schüttelte bedauernd den Kopf und verstaute die Flöte in ihrer Tasche.
»Beinahe wünschte ich mir, du hättest es getan«, sagte Mat, hob den Ärmel und steckte einen Finger durch das Loch. » Blut wäre auf dem Schwarz kaum zu sehen gewesen, aber das Geflickte wird offensichtlich sein. Nur weil du mehr Flicken als Umhang trägst, heißt das nicht, dass ich dir nacheifern will.«
»Und du willst kein Lord sein«, sagte Thom und bückte sich, um seinen Verdienst einzusammeln.
»Das bin ich auch nicht!«, erwiderte er. »Ganz egal, was Tuon sagte, verdammt. Ich bin kein verdammter Adliger.«
»Hast du je einen Bauern darüber jammern hören, dass seine Mantelnähte zu sehen sind?«
»Man muss kein Lord sein, um sich halbwegs vernünftig anziehen zu wollen«, murrte er.
Thom lachte, klopfte ihm auf den Rücken und sprang vom Podest. »Mat, es tut mir leid. Ich handle nach Instinkt, und mir war nicht klar, dass du das bist, bis ich das zu dem Arm gehörende Gesicht sah. Und da war das Messer bereits auf dem Weg.«
Mat seufzte. »Thom«, sagte er grimmig, »ein alter Freund ist in der Stadt. Der, der die Leute mit herausgerissener Kehle zurücklässt.«