Thom nickte und sah beunruhigt aus. »Während meiner Pause hörte ich, wie ein paar Gardisten davon sprachen. Und wir hängen in der Stadt fest, bis du dich entscheidest…«
»Ich öffne diesen Brief nicht«, sagte Mat. »Verin könnte mir den Befehl hinterlassen haben, auf den Händen bis nach Falme zu kriechen, und ich müsste es verdammt noch mal tun! Ich weiß, dass du die Verzögerung hasst, aber dieser Brief könnte für eine noch schlimmere Verzögerung sorgen.«
Thom nickte zögernd.
»Lass uns ins Lager zurückgehen«, sagte Mat.
Das Lager der Bande befand sich eine Meile außerhalb von Caemlyn. Thom und Mat waren nicht zu Pferd gekommen – Fußgänger waren weniger auffällig, und Mat würde keine Pferde in die Stadt bringen, bevor er einen vertrauenswürdigen Stall gefunden hatte. Der Preis für gute Pferde wurde lächerlich. Er hatte gehofft, das hinter sich lassen zu können, nachdem er die seanchanischen Länder hinter sich gelassen hatte, aber Elaynes Heere kauften jedes gute Pferd, das sie finden konnten, und die weniger guten auch. Darüber hinaus hatte er gehört, dass Pferde im Moment gelegentlich auch einfach verschwanden. Fleisch war Fleisch, und selbst in Caemlyn standen die Menschen kurz vor dem Hungertod. Das verschaffte Mat eine Gänsehaut, aber es war nun einmal die Wahrheit.
Er und Thom unterhielten sich auf dem ganzen Rückweg über den Gholam, entschieden kaum mehr, als alle zu alarmieren und Mat jede Nacht in einem anderen Zelt schlafen zu lassen.
Mat schaute über die Schulter, als sie einen Hügel erklommen. Caemlyn leuchtete im Licht der Fackeln und Lampen. Helligkeit hing wie Nebel über der Stadt, das Glühen erhellte die prächtigen Turmspitzen und Türme. Die alten Erinnerungen in seinem Kopf kannten diese Stadt – er erinnerte sich daran, sie angegriffen zu haben, bevor Andor überhaupt eine Nation gewesen war. Caemlyn hatte es keinem Angreifer leicht gemacht. Er beneidete die Adelshäuser nicht, die versucht hatten, es Elayne wegzunehmen.
Thom trat an seine Seite. »Es scheint eine Ewigkeit her zu sein, seit wir das letzte Mal hier waren, nicht wahr?«
»Verdammt, das tut es wirklich«, erwiderte er. »Was hat uns bloß dazu gebracht, diese albernen Mädchen zu jagen? Das nächste Mal können sie sich selbst retten.«
Thom musterte ihn. »Wollen wir nicht wieder das Gleiche tun? Wenn wir zum Turm von Ghenjei reisen?«
»Das ist etwas anderes. Wir können sie nicht bei ihnen lassen. Diese Schlangen und Füchse …«
»Ich beschwere mich nicht. Ich bin bloß nachdenklich.«
Das schien er in letzter Zeit oft zu sein. Blies Trübsal und liebkoste Moiraines abgenutzten Brief. Es war doch bloß ein Brief. »Komm schon«, sagte Mat und wandte sich wieder der Straße zu. »Du sprachst davon, wie wir reinkommen, um die Königin zu sehen?«
Thom ging auf der dunklen Straße an seiner Seite. »Es überrascht mich nicht, dass sie dir noch nicht geantwortet hat. Vermutlich hat sie alle Hände voll zu tun. Es ist davon die Rede, dass Horden von Trollocs in die Grenzländer eingefallen sind, und Andor hat sich von der Thronfolge noch nicht erholt. Elayne …«
»Kennst du auch gute Neuigkeiten? Erzähl sie mir, falls es möglich ist. Ich würde gerne auch mal so etwas hören.«
»Ich wünschte, Der Königin Segen wäre noch geöffnet. Gill hatte immer etwas zu erzählen.«
»Gute Neuigkeiten«, drängte Mat.
»In Ordnung. Nun, der Turm von Ghenjei befindet sich genau dort, wo Domon sagte. Ich habe es von drei anderen Schiffskapitänen gehört. Hinter einer Ebene mehrere Hundert Meilen nordwestlich von Weißbrücke.«
Mat nickte und rieb sich das Kinn. Er hatte das Gefühl, sich an etwas über den Turm erinnern zu können. Eine silbrige Struktur in der Ferne, irgendwie unnatürlich. Eine Fahrt in einem Boot, Wasser schlug gegen die Planken. Bayle Domons schwerer illianischer Akzent…
Diese Bilder blieben vage; seine Erinnerungen an diese Zeit hatten mehr Löcher als eines von Jori Congars Alibis. Bayle Domon hatte ihnen beschrieben, wo der Turm zu finden war, aber Mat hatte eine Bestätigung haben wollen. Die Art, wie Domon vor Leilwin kroch, machte ihn nervös. Keiner der beiden zeigte Mat große Zuneigung, obwohl er sie gerettet hatte. Nicht, dass er von Leilwin irgendwelche Zuneigung gewollt hätte. Sie zu küssen würde ungefähr so viel Spaß machen, wie die Rinde einer Steineiche zu küssen.
»Glaubst du, Domons Beschreibung wird ausreichen, dass jemand für uns ein Wegetor dorthin machen kann?«
»Das weiß ich nicht«, sagte Thom. »Obwohl ich das für das geringere Problem halte. Wo sollen wir jemanden finden, der ein Wegetor erschaffen kann? Verin ist verschwunden.«
»Ich finde schon eine Möglichkeit.«
»Wenn nicht, kostet es uns Wochen, um zu diesem Ort zu gelangen«, sagte Thom. »Mir gefällt nicht, dass …«
»Ich finde ein Wegetor für uns«, sagte Mat energisch. »Vielleicht kehrt Verin ja zurück und erlöst mich von diesem verfluchten Eid.«
»Es wäre besser, wenn sie wegbleibt«, meinte Thom. »Ich traue ihr nicht. Irgendetwas an ihr ist merkwürdig.«
»Sie ist eine Aes Sedai. Bei denen ist immer etwas merkwürdig, sie sind wie Würfel, wo sich die Augen nicht addieren. Aber irgendwie mag ich Verin – für eine Aes Sedai. Und ich kann Charaktere gut einschätzen, das weißt du.«
Thom hob nur eine Braue. Mat sah ihn finster an.
»Wie dem auch sei, wir sollten dich besser von Wächtern begleiten lassen, wenn du die Stadt besuchst«, sagte Thom dann.
»Gegen den Gholam helfen auch keine Wächter.«
»Nein, aber was war mit den Schlägern, die dich vor drei Nächten auf dem Rückweg ins Lager überfielen?«
Mat fröstelte. »Das waren wenigstens gute, ehrliche Diebe. Sie wollten bloß meinen Geldbeutel, alles ganz normal und natürlich. Keiner von ihnen hatte das Bild in der Tasche. Und sie waren auch nicht von der Macht des Dunklen Königs dazu verflucht, bei Sonnenuntergang den Verstand zu verlieren oder dergleichen.«
»Trotzdem«, beharrte Thom.
Mat widersprach nicht. Vielleicht hätte er wirklich ein paar Soldaten mitnehmen sollen. Zumindest ein paar der Rotwaffen.
Das Lager befand sich genau vor ihnen. Einer von Elaynes Sekretären, ein Mann namens Norry, hatte der Bande die Erlaubnis gegeben, in unmittelbarer Nähe von Caemlyn zu lagern. Sie hatten sich bereiterklären müssen, täglich nie mehr als hundert Mann in die Stadt zu schicken und mindestens eine Meile von der Stadtmauer entfernt zu lagern, abseits von allen Dörfern und auf keinem Ackerland.
Das Gespräch mit dem Sekretär bedeutete, dass Elayne von Mats Anwesenheit wusste. Aber sie hatte keinen Gruß geschickt, hatte nicht zu erkennen gegeben, dass sie Mat ihr Leben schuldete.
Nach einer Straßenbiegung zeigte Thoms Laterne eine Gruppe Rotwaffen am Straßenrand. Gufrin, der Sergeant der Abteilung, stand auf und salutierte. Er war ein stämmiger Mann mit breiten Schultern. Nicht besonders klug, aber mit scharfem Blick.
»Lord Mat!«, sagte er.
»Gibt es etwas Neues, Gufrin?«, fragte Mat.
Der Sergeant runzelte die Stirn. »Nun«, sagte er dann, »ich glaube, da gibt es etwas, das Ihr wissen wollt.« Beim Licht! Der Mann sprach langsamer als ein betrunkener Seanchaner. » Heute sind die Aes Sedai zurück ins Lager gekommen. Während Eurer Abwesenheit, mein Lord.«
»Etwa alle drei?!«
»Ja, mein Lord.«
Mat seufzte. Falls noch Hoffnung bestanden hatte, dass sich dieser Tag anders als schlecht entwickelte, war sie dahin. Er hatte gehofft, sie wären noch ein paar Tage in der Stadt geblieben.
Er und Thom gingen weiter, verließen die Straße und benutzten einen Pfad durch ein Feld aus Messergras und Schwarzwespennesseln. Das Unkraut wurde von ihren Schritten platt gewalzt, Thoms Laterne beleuchtete die braunen Stängel. Einerseits war es gut, wieder in Andor zu sein; mit den Zwerglorbeerbäumen und den Tupelobäumen fühlte es sich beinahe wie zu Hause an. Aber bei der Rückkehr alles so abgestorben aussehend vorzufinden war entmutigend.