Von Olver war keine Spur zu sehen, obwohl der Junge auf seiner Pritsche in der Ecke hätte schlafen sollen. Lopins Blut war in der Nähe zu einer Pfütze erstarrt, und Olvers Decke saugte es auf. Mat holte tief Luft und durchsuchte die Trümmer, drehte Decken um und schaute hinter Reisemöbel, voller Angst vor dem, was er finden würde.
Weitere fluchende Soldaten trafen ein. Das Lager erwachte zum Leben: Hörner bliesen Alarm, Laternen wurden entzündet, Rüstungen klirrten.
»Olver«, sagte er zu den Soldaten, die sich im Zelteingang versammelten. Er hatte das ganze verdammte Zelt durchsucht! »Hat ihn jemand gesehen?«
»Ich glaube, er war bei Noal«, sagte Slone Maddow, eine Rotwaffe mit großen Ohren. »Sie …«
Mat bahnte sich einen Weg aus dem Zelt, dann rannte er durch das Lager zu Noals Zelt. Er erreichte es in genau dem Augenblick, in dem der weißhaarige Mann heraustrat und sich gehetzt umblickte.
»Olver?«, fragte Mat bloß.
»Er ist in Sicherheit«, sagte Noal und verzog das Gesicht. »Es tut mir leid, Mat – ich wollte Euch nicht beunruhigen. Wir spielten Schlangen und Füchse, und der Junge schlief auf meinem Zeltboden ein. Ich breitete eine Decke über ihn aus; er ist in den vergangenen Nächten so lange wach geblieben, um auf Euch zu warten, dass ich es für besser hielt, ihn nicht zu wecken. Ich hätte Euch Bescheid sagen sollen.«
»Es tut Euch leid?«, sagte Mat und riss Noal in eine Umarmung. »Verfluchter wunderbarer Mann. Ihr habt ihm das Leben gerettet!«
Eine Stunde später saß Mat zusammen mit Thom und Noal in Thoms kleinem Zelt. Ein Dutzend Rotwaffen bewachten den Ort, und Olver hatte man zum Schlafen in Teslyns Zelt geschickt. Der Junge hatte keine Ahnung, wie nahe er dem Tod gewesen war. Hoffentlich würde er es nie erfahren.
Mat trug wieder sein Medaillon, allerdings brauchte er einen neuen Lederriemen. Der Ashandarei hatte den alten zerschnitten. Er würde eine bessere Methode finden müssen, es dort zu befestigen.
»Thom«, sagte er leise, »die Kreatur hat dich bedroht, und Euch auch, Noal. Olver hat sie nicht erwähnt, aber Tuon schon.«
»Wie kann das Ding von ihr wissen?« Thom kratzte sich am Kopf.
»Die Wächter haben außerhalb des Lagers eine weitere Leiche gefunden. Derry.« Derry war ein Soldat, der seit ein paar Tagen vermisst worden war, und Mat hatte angenommen, er sei desertiert. So etwas passierte gelegentlich, auch wenn Desertion für die Bande ungewöhnlich war. »Er ist seit ein paar Tagen tot.«
»Das Ding hat ihn sich vor so langer Zeit geschnappt?«, sagte Noal stirnrunzelnd. Seine Schultern waren gebeugt, und die Nase hatte die Form einer großen, gekrümmten Pfefferschote, die ihm direkt aus der Mitte seines Gesichts wuchs. Er hatte immer so… verhärmt ausgesehen, wie Mat fand. Seine Hände waren so knorrig, sie schienen nur aus Knöcheln zu bestehen.
» Das Ungeheuer muss ihn verhört haben «, sagte Mat. » Hat herausgefunden, mit welchen Leuten ich meine Zeit verbringe, wo mein Zelt steht.«
»Kann das Ding so etwas überhaupt?«, fragte Thom. »Mir erscheint es mehr wie ein Hund, der dich jagt.«
»Es wusste, wo ich in Tylins Palast zu finden war«, erwiderte er. »Selbst nachdem ich weg war, begab es sich in ihre Gemächer. Also hat es entweder jemanden gefragt oder es beobachtet. Wir werden nie erfahren, ob Derry gefoltert wurde oder bloß über den Gholam stolperte, als der das Lager ausspionierte. Aber das Ding ist schlau.«
Es würde nicht Jagd auf Tuon machen, oder doch? Seine Freunde zu bedrohen war vermutlich nur eine Methode, Mat die Beherrschung verlieren zu lassen. Schließlich hatte die Kreatur in dieser Nacht bewiesen, dass sie noch immer Befehle hatte, zu große Aufmerksamkeit zu vermeiden. Das war kein großer Trost für Mat. Falls dieses Ungeheuer Tuon verletzte …
Es gab nur eine Möglichkeit, um zu verhindern, dass das geschah.
»Also was tun wir?«, fragte Noal.
»Wir jagen es«, sagte Mat leise, »und töten das verfluchte Ding.«
Noal und Thom verstummten.
»Ich lasse nicht zu, dass uns diese Kreatur bis zum Turm von Ghenjei verfolgt.«
»Aber kann sie denn überhaupt getötet werden?«, fragte Thom.
»Alles kann getötet werden. Teslyn hat bewiesen, dass sie ihn mit der Einen Macht verletzen kann, wenn sie es richtig anstellt. Wir müssen etwas Ähnliches tun.«
»Was denn?«, fragte Noal.
»Das weiß ich noch nicht«, meinte Mat. »Ich will, dass ihr beiden mit euren Vorbereitungen weitermacht; bereitet alles vor, damit wir sofort zum Turm von Ghenjei aufbrechen können, sobald mein Eid Verin gegenüber es zulässt. Verflucht, ich muss trotzdem immer noch mit Elayne sprechen. Ich will, dass man mit Aludras Drachen anfängt. Ich werde ihr nochmal schreiben müssen. Dieses Mal aber energischer.
Für den Augenblick treffen wir ein paar Veränderungen. Ich werde ab sofort in der Stadt schlafen. Jede Nacht in einem anderen Gasthaus. Wir informieren die Bande darüber, und falls der Gholam sie belauscht, wird er es herausfinden. Dann muss er keinen der Männer mehr angreifen.
Ihr beiden werdet ebenfalls in die Stadt ziehen müssen. Bis das hier erledigt ist, bis einer von uns beiden tot ist, entweder die Kreatur oder ich. Die Frage ist, was wir mit Olver machen. Ihn hat das Ding nicht erwähnt, aber …«
Er las Verständnis in Thoms und Noals Augen. Tylin hatte er zurückgelassen, und jetzt war sie tot. Olver würde er nicht das Gleiche antun.
»Wir werden den Jungen mitnehmen müssen«, sagte Thom. »Entweder das oder ihn fortschicken.«
»Ich habe ein Gespräch der Aes Sedai mitbekommen«, sagte Noal und rieb sich mit einem knochigen Finger das Gesicht. »Sie wollen aufbrechen. Vielleicht können wir ihn mitschicken?«
Mat verzog das Gesicht. So wie Olver Frauen lüstern anschaute, würden ihn die Aes Sedai nach einem Tag an den Zehen aufhängen. Eigentlich war es überraschend, dass das nicht schon längst geschehen war. Sollte er jemals herausfinden, welcher der Rotwaffen dem Jungen beibrachte, sich in Gegenwart von Frauen auf diese Weise zu benehmen …
»Ich bezweifle, dass wir ihn dazu überreden könnten«, sagte er. »Er wäre in der ersten Nacht nach ihrem Aufbruch wieder zurück.«
Thom nickte.
»Wir müssen ihn mitnehmen«, sagte Mat. »Er muss in den Gasthäusern in der Stadt bleiben. Vielleicht wird das ja …«
»Matrim Cauthon!« Der schrille Ruf ertönte vor Thoms Zelt.
Mat seufzte, dann nickte er den beiden anderen Männern zu und stand auf. Vor dem Zelt entdeckte er, dass sich Joline und ihre Behüter ihren Weg durch die Rotwaffen getrotzt und um ein Haar den Zelteingang zur Seite gerissen hätten, um einzutreten. Sein Auftauchen ließ sie zurückzucken.
Mehrere Rotwaffen erschienen peinlich berührt, sie durchgelassen zu haben, aber das konnte man den Männern nicht zum Vorwurf machen. Die verfluchten Aes Sedai würden verflucht noch mal tun, wozu sie verflucht noch mal Lust hatten.
Die Frau war alles, was Teslyn nicht wahr. Schlank und hübsch trug sie ein weißes Kleid mit tiefem Ausschnitt. Sie lächelte oft, obwohl dieses Lächeln schmallippig wurde, wenn sie es mit Mat zu tun hatte, und sie hatte große braune Augen. Die Art von Augen, die einen Mann in ihren Bann schlagen konnten, bis er in ihnen ertrank.
So hübsch sie auch war, hielt Mat sie dennoch für keinen seiner Freunde geeignet. Er würde Joline niemandem wünschen, den er mochte. Tatsächlich war er ein viel zu großer Ehrenmann, um sie den meisten seiner Feinde zu wünschen. Es war besser, sie blieb bei Fen und Blaeric, ihren Behütern, die seiner Meinung nach Verrückte waren.