Ehrlich gesagt hatte Elayne schon darüber nachgedacht. Aber wenn sie sie jetzt freiließ, würden die drei Ellorien als ihre Retterin betrachten! Die Dankbarkeit, die man Elayne gegenüber empfunden hätte, würde stattdessen an ihre Rivalin gehen. Blut und verdammte Asche!
»Die Windsucherinnen fangen an, nach dem Land zu fragen, das Ihr ihnen versprochen habt«, bemerkte Dyelin.
»Jetzt schon?«
Die ältere Frau nickte. »Diese Bitte bereitet mir noch immer Sorgen. Warum wollen sie so ein Stück Land haben?«
»Sie haben es sich verdient«, sagte Elayne.
»Vielleicht. Aber es bedeutet, dass Ihr seit fünf Generationen die erste Königin seid, die einer fremden Körperschaft ein Stück von Andor abtretet – ganz egal, wie klein es auch sein mag.«
Elayne holte tief Luft und entdeckte, dass sie seltsamerweise ruhiger war. Diese verfluchten Stimmungsschwankungen! Hatte Melfane nicht versprochen, dass sie weniger ausgeprägt sein sollten, je weiter die Schwangerschaft voranschritt? Trotzdem hatte sie manchmal den Eindruck, dass ihre Gefühle wie ein Ball bei einem Kinderspiel herumhüpften.
Sie sammelte ihre Gedanken und setzte sich wieder. »Ich kann das nicht erlauben. Alle Häuser suchen nach Gelegenheiten, sich in die Macht hineinzudrängen.«
»An ihrer Stelle würdet Ihr bestimmt das Gleiche tun«, meinte Dyelin.
»Nicht wenn ich wüsste, dass die Letzte Schlacht näher rückt«, fauchte Elayne. »Wir müssen etwas tun, damit sich die Adligen um wichtigere Dinge kümmern. Etwas, um sie hinter mir zu vereinen, oder das sie zumindest davon überzeugt, dass man mit mir nicht spielen kann.«
»Wisst Ihr eine Möglichkeit, wie das gehen soll?«, fragte Dyelin.
»Ja«, sagte Elayne und schaute nach Osten. »Es ist Zeit, Cairhien zu erobern.«
Birgitte verschluckte sich an ihrem Tee. Dyelin hob lediglich eine Braue. »Ein mutiger Zug.«
»Mutig?«, fragte Birgitte und wischte sich das Kinn ab. »Das ist verdammter Wahnsinn. Du hast doch kaum Andor im Griff.«
»Das macht den Augenblick nur besser«, sagte Elayne. »Wir haben Schwung. Davon abgesehen, wenn wir uns jetzt um Cairhien kümmern, zeigt das allen, dass ich mehr als ein einfältiges Mäuschen von Königin bin.«
»Ich bezweifle, dass das jemand von dir erwartet«, sagte Birgitte. »Und wenn doch, haben sie vermutlich während der Kämpfe ein paar Schläge zu viel auf den Kopf davongetragen.«
»Sie hat recht, so ungehobelt ihre Worte auch sein mögen«, stimmte Dyelin ihr zu. Sie warf Birgitte einen Blick zu, und Elayne fühlte durch Birgittes Bund ihre heftige Abneigung. Beim Licht! Was war nötig, damit sich die beiden vertrugen? »Niemand bezweifelt Eure Stärke als Königin, Elayne. Das wird die anderen nicht davon abhalten, so viel Macht an sich zu reißen, wie sie können; sie wissen genau, dass sie später dazu kaum Gelegenheit haben werden.«
»Ich habe keine fünfzehn Jahre, um wie Mutter meine Herrschaft zu konsolidieren«, sagte Elayne. »Wir wissen doch alle, was Rand davon hält, dass ich mich auf den Sonnenthron setze. Dort herrscht jetzt ein Statthalter und wartet auf mich, und nach dem, was mit Colavaere passiert ist, wagt es keiner, gegen Rands Edikte zu verstoßen.«
»Indem Ihr diesen Thron ergreift«, sagte Dyelin, »riskiert Ihr den Eindruck, als würdet Ihr ihn aus al’Thors Hand empfangen.«
»Und? Andor musste ich auf mich allein gestellt erobern, aber es ist nichts verkehrt daran, Cairhien als sein Geschenk zu akzeptieren. Seine Aiel haben es befreit. Wir tun den Cairhienern einen Gefallen, indem wir einen hässlichen Streit um die Thronfolge verhindern. Mein Anspruch auf diesen Thron ist stark, zumindest so stark wie von jedem anderen auch, und die, die loyal zu Rand stehen, werden sich hinter mich stellen. «
» Riskiert Ihr dabei nicht, Euch zu übernehmen?«
»Schon möglich«, sagte Elayne, »aber ich glaube, es ist das Risiko wert. In einem Schritt könnte ich einer der mächtigsten Monarchen seit Artur Falkenflügel sein.«
Ein höfliches Klopfen an der Tür unterbrach die Debatte. Elayne sah Dyelin an, und der nachdenkliche Gesichtsausdruck der Frau bedeutete, dass sie über ihre Worte nachdachte. Nun, sie würde nach dem Sonnenthron greifen, mit oder ohne Dyelins Zustimmung. Die Frau wurde immer nützlicher als ihre Beraterin – dem Licht sei Dank, dass Dyelin den Thron nicht für sich selbst beansprucht hatte -, aber eine Königin durfte nicht in die Falle tappen, sich zu sehr allein auf eine Person zu verlassen.
Birgitte ging zur Tür und ließ den storchenhaften Meister Norry eintreten. Er trug Rot und Weiß, und sein Gesicht war wie immer ernst. Unter dem Arm trug er seine Ledermappe, und Elayne unterdrückte ein Stöhnen. »Ich dachte, wir wären für heute fertig gewesen.«
»Das dachte ich auch, Euer Majestät«, erwiderte er. »Aber da ergaben sich ein paar neue Entwicklungen. Ich dachte, sie könnten Euch… interessieren.«
»Was meint Ihr?«
»Nun, Euer Majestät«, sagte Norry, »Ihr wisst, dass ich gewisse Tätigkeiten nicht besonders … nun, mag. Aber angesichts kürzlicher Ergänzungen meines Stabes hatte ich Grund, meine Aufmerksamkeit zu erweitern.«
»Ihr sprecht von Hark, nicht wahr?«, fragte Birgitte. »Was macht das wertlose Stück Dreck?«
Norry schaute sie an. » Er ist sehr … äh … dreckig, muss ich sagen.« Er wandte sich wieder Elayne zu. »Aber er ist sehr geschickt, wenn er richtig motiviert ist. Bitte vergebt mir, falls ich mir Freiheiten herausgenommen haben sollte, aber nach den letzten Geschehnissen und den Gästen, die sie Eurem Kerker verschafft haben, hielt ich das für klug.«
»Meister Norry, wovon sprecht Ihr?«, fragte Elayne.
»Frau Basaheen, Euer Majestät«, sagte Norry. »Den ersten Befehl, den ich unserem guten Meister Hark gab, bestand darin, die Unterkunft der Aes Sedai zu beobachten – ein gewisses Gasthaus mit dem Namen Zum Begrüßungssaal.«
Aufregung ergriff Elayne, und sie setzte sich aufrecht. Duhara Basaheen hatte mehrmals versucht, eine Audienz bei ihr zu bekommen, indem sie diverse Angehörige des Palastpersonals einschüchterte. Allerdings wussten nun alle Bescheid, dass sie nicht vorgelassen werden sollte. Aes Sedai oder nicht, sie war Elaidas Repräsentantin, und Elayne wollte nichts mit ihr zu tun haben.
»Ihr habt sie beobachten lassen«, sagte Elayne interessiert. »Bitte sagt mir, dass Ihr etwas entdeckt habt, mit dem ich diese unerträgliche Frau verbannen kann.«
»Dann macht man mir das nicht zum Vorwurf?«, fragte Meister Norry vorsichtig, noch immer so trocken und unaufgeregt wie immer. Er war noch immer unerfahren, wenn es um Spionage ging.
»Beim Licht, nein«, sagte Elayne. »Ich hätte das selbst anordnen sollen. Ihr habt mich vor diesem Versehen bewahrt, Meister Norry. Falls Eure Entdeckungen gute Neuigkeiten sind, werde ich Euch vermutlich einen Kuss geben.«
Das rief eine Reaktion hervor; er riss entsetzt die Augen auf. Es reichte, um Elayne lachen zu lassen, und auch Birgitte kicherte. Dyelin schien nicht erfreut zu sein. Nun, soweit es Elayne betraf, konnte sie an einem Ziegenfuß saugen.
»Äh… nun ja«, sagte Norry, »das wird nicht nötig sein, Euer Majestät. Ich bin von der Annahme ausgegangen, sollten Schattenfreunde in der Stadt sein, die sich als Aes Sedai ausgeben …« – wie alle anderen hatte er gelernt, Falion und die anderen in Elaynes Gegenwart nicht als Aes Sedai zu bezeichnen – »… wir besser jeden gut im Auge behalten, der angeblich aus der Weißen Burg kommt.«
Elayne nickte eifrig. Norry war aber auch wieder umständlich!
»Ich fürchte, ich muss Euer Majestät enttäuschen«, sagte Norry, dem offensichtlich ihre Aufregung auffiel, »wenn Ihr auf einen Beweis hofft, dass diese Frau ein Schattenfreund ist.«
»Oh.«
»Aber«, fuhr Norry fort und hob einen schmalen Finger, »ich habe Grund zu der Annahme, dass Duhara Sedai etwas mit dem Dokument zu tun haben könnte, das Ihr mit… äh, ungewöhnlicher Sorgfalt zu behandeln scheint.« Er sah auf die Seiten, die Elayne auf den Boden geworfen hatte. Eine Seite zeigte deutlich den Abdruck von ihrem Schuh.