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Sohn des Haushofmeisters und die 6jährige Enkelin der Haushälterin) im ewigen Schlaf. Die Polizisten stiegen zum ersten Stock hinauf und fanden den Hausherrn, Lord Littleby, in einer Blutlache. Er war in der Schatzkammer ermordet worden, in der er seine berühmte Sammlung fernöstlicher Raritäten aufbewahrte. Der 55jährige Engländer war in der vornehmen Gesellschaft unserer Hauptstadt kein Unbekannter. Er galt als Exzentriker und Eigenbrödler, doch Archäologen und Orientologen sahen in Lord Littleby einen seriösen Kenner der indischen Geschichte. Mehrmalige Versuche der Direktion des Louvre, dem

Lord einzelne Exponate seiner vielfältigen Sammlung abzukaufen, stießen auf entrüstete Ablehnung. Der Verstorbene schätzte insbesondere die einzigartige goldene Statuette des Gottes Schiwa, die von Experten auf mindestens eine halbe Million Francs taxiert wird. Der Lord, der ein ängstlicher und argwöhnischer Mensch war, hatte große Furcht vor Dieben, und in der Schatzkammer standen Tag und Nacht zwei bewaffnete Wächter.

Wir wissen nicht, warum die Wächter ihren Posten verließen und ins Parterre hinuntergingen. Wir wissen nicht, über welche unbekannte Macht der Täter verfügte, um alle Bewohner des Hauses seinem Willen gefügig zu machen, ohne daß sie den geringsten Widerstand leisteten (die Polizei nimmt an, daß ein schnell wirkendes Gift eingesetzt wurde). Klar ist nur, daß der Verbrecher den Hausherrn nicht in der Villa vermutet hatte. Damit ist wohl die bestialische Grausamkeit zu erklären, mit welcher der angesehene Sammler getötet wurde. Der Mörder dürfte den Tatort in Panik verlassen haben. Jedenfalls nahm er nur die Statuette und eines der bunten indischen Tücher mit, die in derselben Vitrine ausgestellt waren. Das Tuch wurde sicherlich benötigt, um den goldenen Schiwa einzuwickeln, da sonst der Glanz der Statuette die Aufmerksamkeit eines späten Passanten hätte erregen können. Die übrigen Kostbarkeiten, an denen die Sammlung reich ist, blieben unberührt. Wie wir ermitteln konnten, war Lord Littleby gestern nur zufällig zu Hause, durch eine verhängnisvolle Verquickung von Umständen. Er wollte eigentlich ins Kurbad fahren, war aber wegen eines plötzlichen Podagraanfalls daheim geblieben - zu seinem Unglück. Der Zynismus des Massenmords in der Rue de Grenelle ist be- stürzend. Welche Mißachtung von Menschenleben! Welch ungeheuerliche Grausamkeit! Und wofür? Für einen goldenen Götzen, der jetzt gar nicht mehr verkauft werden kann! Sollte die Schiwafigur jedoch eingeschmolzen werden, so wird sie sich in einen gewöhnlichen Zweikilogoldbarren verwandeln. Zweihundert Gramm des gelben Metalls - das ist der Wert, den der Verbrecher jedem der zehn vernichteten Menschenleben beimaß. O tempora, o mores! rufen wir mit Cicero.

Es gibt jedoch Grund zu der Annahme, daß die unerhörte Untat nicht ungestraft bleiben wird. Der erfahrenste Ermittler der Pariser Präfektur, Gustave Coche, der mit der Untersuchung betraut ist, teilte uns im

Vertrauen mit, daß die Polizei über ein wichtiges Corpus delicti verfügt. Der Kommissar ist sich absolut sicher, daß der Schuldige bald hinter Gittern sitzen wird. Auf unsere Frage, ob das Verbrechen von einem Berufsräuber verübt wurde, lächelte Monsieur Coche verschmitzt in seinen grauen Schnauzbart und antwortete geheimnisvolclass="underline" »Nein, der Faden führt in die gute Gesellschaft.« Mehr konnte meine Wenigkeit nicht aus ihm herausholen.

G. du Roy

WELCH EIN FANG!

Der goldene Schiwa ist gefunden! Das »Verbrechen des Jahrhunderts« in der Rue de Grenelle - das Werk eines Irren?

Gestern, am 17. März, gegen achtzehn Uhr angelte der 13jährige Pierre B. bei der Pont des Invalides. Sein Angelhaken verhedderte sich am Grund, so daß der Junge ins kalte Wasser steigen mußte. (»Ich wär ja schön blöd, den englischen Haken unten zu lassen«, sagte der junge Angler zu unserem Reporter.) Pierres Mut wurde belohnt: Der Haken erriet sofort, daß es der berühmte goldene Schiwa war, um war nicht an einem gewöhnlichen Wurzelknorren hängengeblieben, sondern an einem gewichtigen Gegenstand, der zur Hälfte im Schlamm versunken war. Aus dem Wasser gezogen, erstrahlte der Gegenstand in überirdischem Glanz und blendete den verwunderten Fischer. Pierres Vater, Sergeant im Ruhestand und Veteran von Sedan, dessentwillen vorgestern zehn Menschen ermordet worden waren, und brachte die Statuette auf die Präfektur. Wie ist das zu verstehen? Der Verbrecher, der vor der kaltblütigen und raffinierten Ermordung so vieler Menschen nicht zurückschreckte, will die Beute seiner ungeheuerlichen Untat nicht behalten! Die Untersuchung steckt in einer Sackgasse. Viele neigen wohl zu der Annahme, daß in dem Mörder verspätet das Gewissen erwachte und er voller Entsetzen die goldene Götzenfigur ins Wasser warf. Manche glauben sogar, daß sich der Verbrecher in der Nähe ertränkte. Die Polizei, nicht minder romantisch, findet in der Inkonsequenz der Handlungen des Täters deutliche Anzeichen von Wahnsinn.

Ob wir wohl irgendwann die wahren Hintergründe dieser grauenhaften, unfaßbaren Geschichte erfahren?

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ERSTER TEIL

PORT SAID-ADEN

KOMMISSAR COCHE

In Port Said kam ein neuer Passagier an Bord der »Leviathan«, er hatte die letzte freie Kabine der ersten Klasse, die Nr. 18, und Gustave Coches Stimmung besserte sich sogleich. Der Neue sah vielversprechend aus: zurückhaltende und gemessene Bewegungen, undurchdringliche Miene, ein schönes Gesicht, das auf den ersten Blick ganz jung wirkte, doch als er die Melone abnahm, kamen überraschend weiße Schläfen zum Vorschein. Interessantes Exemplar, entschied der Kommissar. Man sieht sofort, ein Mann mit Charakter und, wie man so sagt, mit Vergangenheit. Zweifellos ein Kunde für Coche.

Der Passagier kam die Schiffstreppe hoch und schwenkte eine Reisetasche. Schwitzende Träger schleppten sein ansehnliches Gepäck: teure knarrende Koffer, gediegene Taschen aus Schweinsleder, umfangreiche Bücherpakete und sogar ein Klappfahrrad (ein großes und zwei kleine Räder und ein Bündel blanke Metallrohre). Den Zug beschlossen zwei arme Kerle, die sich mit eindrucksvollen Hanteln plagten.

Das Herz des Kommissars Coche, dieses alten Spürhundes (wie er sich gern selbst nannte), erbebte vor Jagdeifer, als er bei dem Neuen nicht das goldene Abzeichen mit dem Wal sah, nicht auf dem seidenen Revers des stutzerhaften Sommerpaletots, nicht am Jackett und auch nicht an der Uhrkette. Warm, ganz warm, dachte Coche, während er den

Fant unter buschigen Augenbrauen hervor beobachtete und dabei sein geliebtes Tonpfeifchen paffte. Wieso war er eigentlich davon ausgegangen, daß der Mörder den Dampfer in Southhampton besteigen würde? Das Verbrechen war am 15. März verübt worden, und heute war schon der 1. April. Er konnte nach Port Said gefahren sein, während die »Leviathan« Westeuropa umschiffte. Paßte doch alles zusammen: vom Typ her verdächtig plus Ticket erster Klasse plus das Wichtigste - er hatte keinen goldenen Wal.

Das verfluchte Abzeichen mit der Abbreviatur der Dampfschiffahrtsgesellschaft »Jasper & Arthaud Partnership« erschien Coche seit einiger Zeit schon in seinen nächtlichen Träumen, und die waren ungewöhnlich scheußlich, zum Beispiel der letzte.