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Sie packte den Fahnder am Ärmel, stellte sich auf die Zehenspitzen und sprudelte hervor: »Ich muß Ihnen was erzählen!«

Schnauzer warf ihr einen prüfenden Blick zu, kreuzte die Arme vor der Brust und sagte mit unguter Stimme: »Ich höre mit Interesse zu. Wollte ohnehin längst mal mit Ihnen sprechen, Madame.«

Sein Ton ließ Renate aufhorchen, aber sie dachte - Unsinn, Schnauzer hat eine schlechte Verdauung, oder ihm ist im Traum eine krepierte Ratte erschienen.

»Ich habe für Sie die Arbeit gemacht«, prahlte Renate und blickte nach rechts und links, ob auch niemand lauschte. »Gehen wir in Ihre Kabine, dort stört uns niemand.«

Schnauzers Behausung war tipp-topp aufgeräumt: Mitten auf dem Tisch prangte die bekannte schwarze Mappe, daneben lagen ein Stoß Papier und gutgespitzte Bleistifte. Renate sah sich neugierig um, entdeckte eine Schuhbürste und eine Dose Schuhkrem und auf einer Schnur trocknende Hemdkragen. Der Alte ist geizig, dachte sie, er putzt seine Schuhe selbst und wäscht selbst, um dem Personal kein Trinkgeld geben zu müssen.

»Na, reden Sie schon«, knurrte er gereizt, da Renates Neugier ihn verdroß.

»Ich weiß, wer der Täter ist«, meldete sie stolz.

Diese Neuigkeit verfehlte die erhoffte Wirkung auf den Kommissar. Er holte tief Luft und fragte: »Wer?«

»Na sind Sie denn blind? Das ist doch mit bloßem Auge zu sehen!« Renate schlug die Hände zusammen und setzte sich in einen Sessel. »Alle Zeitungen haben geschrieben, daß den Mord ein Psychopath verübt haben muß. Kein normaler Mensch hätte das fertiggebracht, richtig? Und jetzt überlegen Sie mal, wer bei uns am Tisch sitzt. Natürlich ist da eine komische Truppe beisammen, lauter Langweiler und Mißgeburten, aber nur ein Psychopath.«

»Sie meinen den Baronet?« fragte Schnauzer.

»Na endlich.« Renate schüttelte mitleidig den Kopf. »Das liegt doch klar auf der Hand. Haben Sie mal gesehen, mit was für Augen er mich anguckt? Das ist doch ein Tier, ein Monster. Ich fürchte mich, allein durch den Korridor zu gehen. Gestern traf ich ihn auf der Treppe, und ringsum kein Mensch. Es hat mir einen Stich gegeben!« Sie griff sich an den Bauch. »Ich beobachte ihn schon lange. Nachts brennt in seiner Kabine Licht, und die Vorhänge sind zugezogen. Gestern aber war ein schmaler Spalt offen, und ich habe vom Deck aus hineingeschaut. Er stand mitten in der Kabine, fuchtelte mit den Händen, schnitt ekelhafte Grimassen, drohte jemandem mit dem Finger. Gräßlich! Später in der Nacht bekam ich Migräne und ging hinaus an die frische Luft. Plötzlich seh ich, auf der Back steht unser Verrückter, den Kopf gen Himmel gereckt, und guckt durch ein Metallding zum Mond. Und da fiel bei mir der Groschen!« Renate beugte sich vor und begann zu flüstern. »Wir haben nämlich Vollmond. Und da ist er durchgedreht. Er ist geisteskrank, und bei Vollmond erwacht seine Blutgier. Ich habe darüber gelesen! Was starren Sie mich so an? Haben Sie in den Kalender gesehen?« Renate entnahm ihrem Ridikül einen kleinen Kalender. »Da, schauen Sie, ich habe nachgeblättert. Am 15. März wurden die zehn Menschen in der Rue de Grenelle ermordet, und es war Vollmond. Da steht es schwarz auf weiß: pleine lune!«

Schnauzer sah hin, aber ohne Interesse.

»Was glotzen Sie denn wie ein Uhu!« rief Renate ärgerlich. »Sie werden doch begreifen, daß heute wieder Vollmond ist! Während Sie hier herumsitzen, schnappt er wieder über und bringt noch einen Menschen um. Ich weiß sogar, wen - mich. Er haßt mich.« Ihre Stimme zitterte hysterisch. »Auf diesem schauerlichen Schiff wollen sie mich alle töten! Mal fällt ein Afrikaner über mich her, mal stiert mich der Asiat an und läßt die Kaumuskeln spielen, und nun auch noch der durchgedrehte Baronet!«

Schnauzer sah sie unverwandt an. Renate fuchtelte mit der Hand vor seiner Nase herum und rief: »He, Monsieur Coche! Sind Sie eingeschlafen?«

Der Alte schob ihre Hand beiseite und sagte rauh: »Jetzt hören Sie mal zu, meine Liebe. Stellen Sie sich nicht dumm. Mit dem rothaarigen Baronet werde ich schon fertig. Erzählen Sie mir lieber, was es mit der Spritze auf sich hat. Aber schön die Wahrheit!« bellte er so heftig, daß Renate den Kopf einzog.

Beim Abendbrot saß sie da und starrte auf ihren Teller. Den sautierten Aal rührte sie nicht an, dabei aß sie sonst immer mit gutem Appetit. Ihre Augen waren rot und geschwollen. Die Lippen zuckten ab und zu.

Dafür wirkte Schnauzer gutmütig und sogar wohlgelaunt. Er blickte öfter mal und nicht ohne Strenge zu Renate, aber nicht feindselig, eher väterlich. Dieser Coche war nicht so bedrohlich, wie er gerne gewirkt hätte.

»Solides Ding«, sagte er mit einem neidischen Blick auf die Big-Ben-Uhr in der Ecke des Salons. »Manche haben eben Glück.«

Der monumentale Preis paßte nicht in Fandorins Kabine und war einstweilen im Salon »Windsor« abgestellt worden. Der eichene Turm tickte, klirrte und grunzte ohrenbetäubend und schlug jede volle Stunde derart schallend, daß sich alle ans Herz griffen. Beim Frühstück, als Big Ben mit zehnminütiger Verspätung verkündete, daß es schon neun sei, hätte die Frau des Doktors fast ihren Teelöffel verschluckt. Überdies war das Fundament des Turms offenkundig zu schmal, so daß dieser bei Wellengang gefährlich zu schwanken begann. So auch jetzt - als der Wind auffrischte und die weißen Gardinen vor den offenstehenden Fenstern flatterten wie zur Kapitulation, knarrte Big Ben bedrohlich.

Der Russe schien die ernstgemeinte Begeisterung des Kommissars für Ironie zu nehmen und begann sich zu rechtfertigen: »Ich habe ihnen ges-sagt, sie sollen die Uhr auch den gefallenen Mädchen geben, aber Herr Drieux war unerbittlich. Ich schwöre bei Christus, Allah und Buddha, wenn wir in Kalkutta eintreffen, v-vergesse ich das Monstrum auf dem Schiff. Niemand soll es wagen, mir das Ungetüm aufzuzwingen!«

Er warf einen besorgten Seitenblick auf Leutnant Regnier, doch der schwieg diplomatisch. Da guckte er auf der Suche nach Mitgefühl zu Renate hin, aber sie guckte finster zurück. Erstens hatte sie schlechte Laune, und zweitens war Fandorin bei ihr in Ungnade gefallen.

Das war eine Geschichte für sich.

Es hatte damit begonnen, daß ihr auffiel, wie die kränkliche Mrs. Truffo zusehends auflebte, wenn der reizende Diplomat in der Nähe war. Monsieur Fandorin gehörte allem Anschein nach zu der verbreiteten Art schöner Männer, die in jedem Dummchen etwas Pikantes erkennen konnten und nichts anbrennen ließen. Renate mochte diese Sorte Männer und war ihnen gegenüber nicht gleichgültig. Gar zu gern hätte sie gewußt, was für einen Vorzug der blauäugige brünette Russe an der faden Mrs. Truffo gefunden hatte. Daß er ein bestimmtes Interesse an ihr nahm, stand außer Zweifel.

Ein paar Tage zuvor war Renate Zeugin einer spaßigen Szene zwischen den beiden Akteuren geworden: Mrs. Truffo (als Vamp) und Monsieur Fandorin (als tückischer Verführer). Das Publikum bestand aus einer jungen Dame (sehr attraktiv, wenngleich in anderen Umständen), die hinter einer hohen Chaiselonguelehne versteckt war und immer wieder in einen Handspiegel schaute. Schauplatz - das Achterschiff. Zeit der Handlung - der romantische Sonnenuntergang. Die Sprache des Stücks war Englisch.

Mrs. Truffo pirschte sich mit plumper britischer Verführungskunst an den Diplomaten heran (beide handelnde Personen standen an der Reling, der erwähnten Chaiselongue halb zugewandt). Mrs. Truffo begann, wie es sich gehört, mit dem Wetter. »Hier in den südlichen Breiten scheint die Sonne so grell!« blökte sie leidenschaftlich.

»O ja«, antwortete Fandorin. »In Rußland ist zu dieser Jahreszeit der Sch-schnee noch nicht getaut. Hier dagegen erreicht die Temperatur fünfunddreißig Grad Celsius, im Schatten, in der Sonne ist es noch heißer.«

Nach dem erfolgreichen Abschluß des Vorspiels wähnte sich die zickige Person berechtigt, zu intimeren Themen überzugehen.