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»O doch, das ist sehr sehr interessant!« rief Renate. »Ich liebe Geheimnisse und ihre Enthüllung. Aber, lieber Professor, so geht es nicht. Setzten Sie sich an den Tisch, trinken

* (engl.) O nein! Nicht schon wieder!

Sie ein Glas Wein, verpusten Sie und dann erzählen Sie schön der Reihe nach - ruhig, vernünftig. Und vor allem von Anfang an, nicht vom Ende her. Sie sind doch ein wunderbarer Erzähler. Aber zuerst hole mir bitte jemand meinen Schal, sonst erkälte ich mich noch in der Zugluft.«

»Ich werde die Fenster auf der Windseite schließen, dann gibt es keine Zugluft mehr«, bot Sweetchild an. »Sie haben recht, Madame, ich erzähle lieber der Reihe nach.«

»Nein, nicht schließen, dann wird es stickig. Nun, meine Herren.« Renates Stimme vibrierte launisch. »Wer holt mir den Schal aus der Kabine? Hier ist der Schlüssel. Monsieur Baronet!«

Der rothaarige Verrückte rührte sich natürlich nicht vom Fleck. Dafür sprang Regnier auf.

»Professor, ich bitte Sie, fangen Sie nicht ohne mich an«, sagte er. »Ich bin gleich wieder da.«

»And I’ll go get my knitting«*, seufzte Mrs. Truffo.

Sie kehrte als erste zurück und klapperte geschickt mit den Stricknadeln. Ihrem Manne bedeutete sie mit der Hand, er brauche nicht zu übersetzen.

Sweetchild bereitete seinen Triumph vor. Er war scheint’s entschlossen, Renates Rat zu befolgen und seine Entdek- kungen möglichst wirksam darzulegen.

Am Tisch herrschte völlige Stille, alle sahen den Redner an und beobachteten jede seiner Gesten.

Sweetchild nippte vom Rotwein, ging im Salon auf und ab. Dann blieb er in malerischer Pose stehen, den Zuhörern halb zugewandt, und begann: »Ich habe Ihnen schon von dem unvergeßlichen Tag erzählt, an dem Radscha Bagdassar mich in seinen Palast zu Brahmapur einlud. Das liegt ein Vierteljahrhundert zurück, und doch erinnere ich mich an alles bis auf die letzten Details. Das erste, was mir auffiel, war der Anblick des Palastes. Da ich wußte, daß Bagdassar einer der reichsten Männer der Welt war, hatte ich orientalischen Luxus und Größe erwartet. Nichts dergleichen! Die Gebäude des Palastes waren recht bescheiden, ohne ornamentale Verzierungen. Und ich dachte mir, daß die Leidenschaft für Edelsteine, die in diesem Geschlecht vom Vater auf den Sohn vererbt wurde, alle anderen eitlen Bestrebungen verdrängt habe. Wozu Geld für Marmorwände verschwenden, wenn man dafür noch einen Saphir oder Diamanten erwerben konnte? Der Brahmapurer Palast, geduckt und unscheinbar, war eigentlich auch eine Lehmschatulle, in der die zauberische Sammlung unbeschreiblichen Glanzes aufbewahrt wurde. Marmor und Alabaster konnten ohnehin nicht mit dem blendend hellen Licht der Steine wetteifern.« Der Professor nippte wieder vom Wein, spielte Nachdenklichkeit.

Atemlos stürmte Regnier herein, legte Renate respektvoll den Schal um die Schultern und blieb neben ihr stehen.

»Was für Marmor und Alabaster?« fragte er flüsternd.

»Der Palast von Brahmapur, stören Sie nicht.« Renate ruckte ungeduldig mit dem Kinn.

»Die Innenausstattung des Palastes war auch sehr einfach«, nahm Sweetchild den Faden wieder auf. »Im Lauf der Jahrhunderte waren die Säle und Gemächer mehrmals umgestaltet worden, und vom historischen Gesichtspunkt interessierte mich nur das Obergeschoß, das aus vier Sälen bestand, jeder einer Himmelsrichtung zugewandt. Die Säle waren ehedem offene Galerien gewesen, doch im vergangenen Jahrhundert hatte man sie verglast. In dieser Zeit wurden die Wände mit hochinteressanten Fresken geschmückt - sie bilden die Berge ab, die von allen Seiten das Tal einschließen. Die Landschaft ist erstaunlich realistisch dargestellt - die wirklichen Berge ringsum scheinen sich in einem Spiegel zu reflektieren. Vom philosophischen Standpunkt soll die Spiegelung die Dualität alles Seins symbolisieren und .«

Irgendwo ganz in der Nähe ertönte das Alarmgeläut der Schiffsglocke, Schreie waren zu hören, eine Frau kreischte verzweifelt.

»O Gott, Feueralarm!« rief der Leutnant und stürzte zur Tür. »Das hat uns noch gefehlt!«

Alle liefen ihm hinterher.

»What’s happening?« fragte die verängstigte Mrs. Truffo vergeblich. »Are we boarded by pirates?«*

Renate saß einen Moment offenen Mundes da, dann schrie sie gellend, verkrallte sich in den Rockschoß des Kommissars und hielt ihn fest.

»Monsieur Coche, lassen Sie mich nicht allein!« flehte sie. »Ich weiß, was ein Schiffsbrand bedeutet, ich habe darüber gelesen! Jetzt stürzen alle zu den Booten, schubsen einander beiseite, und eine schwache schwangere Frau wie ich wird ganz sicher weggedrängt. Versprechen Sie mir, daß Sie sich um mich kümmern!«

»Wieso denn Boote?« knurrte der Alte beunruhigt. »Was reden Sie für Unsinn! Man hat mir gesagt, daß die >Levia- than< einen idealen Brandschutz hat und sogar einen eigenen Brandmeister. Sie brauchen nicht so zu zittern, alles wird gut.« Er versuchte, sich zu befreien, aber Renate hielt seinen Rockschoß fest umklammert. Ihre Zähne schnatterten.

»Laß mich los, Mädchen«, sagte Coche freundlich. »Ich gehe nicht weg. Ich will nur durchs Fenster auf das Deck schauen.«

Nein, Renates Finger hielten fest.

Aber der Kommissar sollte recht behalten. Nach ein paar * (engl.) Was ist passiert? Ein Piratenüberfall?

Minuten waren im Korridor ruhige Schritte und Stimmen zu hören, und die »Windsors« kamen einer nach dem anderen wieder herein.

Sie hatten sich noch nicht von dem Schreck erholt, darum lachten sie viel und sprachen lauter als sonst.

Als erste kamen Clarissa Stomp, das Ehepaar Truffo und der puterrote Regnier herein.

»Alles ganz harmlos«, verkündete der Leutnant. »Jemand hat eine noch brennende Zigarre in den Abfalleimer geworfen, und da lag eine alte Zeitung drin. Die Flammen erfaßten eine Portiere, aber die Matrosen haben das Feuer im Nu gelöscht. Doch wie ich sehe, sind Sie hier allseitig auf einen Schiffbruch vorbereitet.« Er lachte und blickte Clarissa genauer an.

Diese hielt eine Geldbörse und eine Flasche Orangeade in den Händen.

»Naja, die Orangeade soll Sie vor dem Verdursten auf See bewahren«, erriet Regnier. »Aber wozu die Geldbörse? Die würde Ihnen im Rettungsboot kaum nützen.«

Renate kicherte hysterisch, und Clarissa, die alte Jungfer, stellte verlegen die Flasche auf den Tisch.

Der Doktor und seine Frau waren auch gerüstet: Mr. Truffo hatte die Arzttasche mit den Instrumenten bei sich, und seine Frau drückte eine Decke an die Brust.

»Das hier ist der Indische Ozean, gnädige Frau, da würden Sie kaum erfrieren«, sagte Regnier mit ernster Miene, aber die Ziege schüttelte nur verständnislos den Kopf.

Nun kam der Japaner mit einem rührenden geblümten Bündelchen in der Hand. Was mochte er darin haben - einen Satz Harakirimesser?

Der Psychopath erschien zerrauft, ein Kästchen in der Hand, wie es für Schreibutensilien verwendet wird.

»Wem wollen Sie denn schreiben, Monsieur MilfordStokes? Ah, verstehe! Wenn Miss Stomp ihre Orangeade ausgetrunken hat, stecken wir einen Brief in die leere Flasche und lassen ihn auf den Wellen schwimmen«, scherzte der Leutnant übermütig, wohl vor Erleichterung.

Jetzt waren alle beisammen außer dem Professor und dem Diplomaten.

»Monsieur Sweetchild verpackt bestimmt seine wissenschaftlichen Arbeiten, und der Russe stellt den Samowar auf, um ein letztes Mal Tee zu trinken«, sagte Renate, von dem Frohsinn des Leutnants angesteckt.

Da kam der Russe wie aufs Stichwort. Er blieb an der Tür stehen. Sein schönes Gesicht war finster wie eine Gewitterwolke.

»Was ist, Monsieur Fandorin, wollen Sie Ihren Preis holen und ins Rettungsboot mitnehmen?« fragte Renate schelmisch.

Alle bogen sich vor Lachen, aber der Russe wußte den geistreichen Scherz nicht zu schätzen.

»Kommissar Coche«, sagte er halblaut, »wenn es Ihnen keine Mühe macht, kommen Sie bitte in den Korridor. Und zwar rasch!«