Sonderbar, diese Worte sprach der Diplomat ohne das geringste Stottern. Vielleicht hatte die Nervenerschütterung ihn kuriert? Das kommt ja vor.
»Was soll denn so eilig sein?« fragte Coche mißmutig. »Später, junger Mann, später. Erst will ich den Professor zu Ende hören. Wo steckt er bloß?«
Der Russe sah den Kommissar erwartungsvoll an. Als er erkannte, daß der Alte in seiner Sturheit nicht daran dachte, in den Korridor zu kommen, zuckte er die Achseln und sagte kurz: »Der Professor kommt nicht.«
Coche runzelte die Stirn.
»Wieso denn das?«
Renate fuhr hoch.
»Warum nicht? Er hat doch an der interessantesten Stelle aufgehört! Das ist einfach unanständig!«
»Mr. Sweetchild ist soeben ermordet worden«, teilte der Diplomat bündig mit.
»Waas?« brüllte Coche. »Ermordet? Wie denn?«
»Ich vermute, mit einem chirurgischen Skalpell«, antwortete der Russe erstaunlich kaltblütig. »Ihm wurde mit großer Exaktheit die Kehle durchgeschnitten.«
KOMMISSAR COCHE
»Wann läßt man uns endlich an Land?« jammerte Madame Kleber. »Alle Welt geht in Bombay spazieren, nur wir sitzen hier fest.«
Die Gardinen an den Fenstern waren zugezogen, denn die zum Zenit aufgestiegene Sonne heizte das Deck auf und ließ die Luft schmelzen. Heiß und stickig war’s im »Windsor«, doch alle blieben geduldig sitzen und warteten auf die Lösung.
Coche zog seine Taschenuhr, ein Auszeichnungsstück mit dem Profil Napoleons III. und antwortete verschwommen: »Bald, Herrschaften. Bald lasse ich Sie gehen. Aber nicht alle.«
Er wußte, worauf er wartete: Inspektor Jackson und seine Männer machten eine Durchsuchung. Das Mordwerkzeug lag zwar gewiß auf dem Grunde des Ozeans, aber vielleicht wurden andere Beweisstücke gefunden. Hoffentlich. Nun konnte Jackson aber kommen.
Die »Leviathan« war bei Morgengrauen in Bombay eingelaufen. Seit gestern abend saßen die »Windsors« in ihren Kabinen unter Hausarrest. Coche hatte mit Vertretern der örtlichen Behörden verhandelt, seine Mutmaßungen geäußert und um Unterstützung gebeten. Daraufhin hatte man ihm Jackson und eine Truppe Konstabler geschickt. Na los, Jackson, bewege dich, trieb Coche den langsamen Inspektor in Gedanken an. Nach der schlaflosen Nacht hatte er einen Kopf wie eine Kesselpauke, und die Leber muckerte. Aber seine Stimmung war nicht schlecht - der Faden entwirrte sich, und schon war das Ende zu erkennen.
Um halb neun ließ Coche, der mit der Bombayer Polizei alles geregelt und das Telegraphenamt aufgesucht hatte, alle Arrestanten im »Windsor« zusammenkommen - das war günstiger für die Durchsuchung. Nicht einmal die schwangere Renate wurde verschont, obwohl sie in der Tatzeit bei den anderen gewesen war und den Professor keineswegs hatte meucheln können. Schon seit fast vier Stunden bewachte der Kommissar seine Gefangenen. Er hatte einen strategischen Punkt besetzt, nämlich einen tiefen Sessel gegenüber dem Verdächtigen. Draußen, vom Salon aus nicht zu sehen, standen zwei bewaffnete Polizisten.
Ein Gespräch kam im Salon nicht in Fluß, die Arrestanten schwitzten und waren nervös. Von Zeit zu Zeit blickte Re- gnier herein, nickte Renate mitfühlend zu und enteilte wieder zu seinen Pflichten. Zweimal erschien der Kapitän, aber er sagte nichts, versengte nur den Kommissar mit einem wütenden Blick. Als ob der alte Coche die Suppe eingebrockt hätte!
Der verwaiste Stuhl von Professor Sweetchild erinnerte an eine Zahnlücke. Der Indologe lag jetzt an Land in einer Kühlkammer des Bombayer Leichenschauhauses. Coche stellte sich das Halbdunkel und die Eisblöcke vor und war fast neidisch auf den Toten. Der lag da, hatte alle Sorgen hinter sich, der durchweichte Kragen schnitt ihm nicht in den Hals.
Der Kommissar blickte Doktor Truffo an, dem offenbar auch nicht wohl in seiner Haut war: Über das brünette Gesicht des Arztes lief der Schweiß in Strömen, und seine englische Furie zischte ihm unentwegt ins Ohr.
»Was schauen Sie mich so an, Monsieur!« explodierte er, als er den Blick des Polizisten auffing. »Immerfort starren Sie mich an! Das ist empörend! Mit welchem Recht? Seit fünfzehn Jahren arbeite ich nach bestem Wissen und Gewissen ...« Er schluchzte beinahe. »Ja, mit einem Skalpell, na und? Das kann sonst wer gewesen sein!«
»Wirklich mit einem Skalpell?« fragte Mademoiselle Stomp ängstlich.
Zum erstenmal in der ganzen Zeit wurde im Salon über das Geschehene gesprochen.
»Ja, einen so sauberen Schnitt macht nur ein sehr gutes Skalpell«, antwortete Truffo ärgerlich. »Ich habe die Leiche untersucht. Offensichtlich hat jemand Sweetchild von hinten gepackt, ihm mit einer Hand den Mund zugehalten und mit der anderen die Kehle durchgeschnitten. Im Korridor ist die Wand mit Blut vollgespritzt - etwas über Mannshöhe. Weil der Kopf nach hinten gerissen wurde.«
»Dafür bedarf es doch keiner besonderen Körperkraft?« fragte der Russe, der sich hier auch als Kriminalist aufspielte. »Genügt nicht das Ü-überraschungsmoment?«
Der Doktor zuckte verzagt die Achseln.
»Ich weiß nicht, Monsieur. Ich habe es noch nicht versucht.«
Aha! Die Tür ging auf, und es zeigte sich die knochige Physiognomie des Inspektors. Er winkte Coche mit dem Finger, und der rappelte sich ächzend aus dem Sessel hoch.
Im Korridor erwartete den Kommissar eine angenehme Überraschung. Ach, wie gut sich das alles fügte! Wirkungsvoll, schön. Am besten gleich ins Schwurgericht - solche Beweisstücke vermochte kein Advokat zu entkräften. Ja, der alte Gustave Coche konnte noch jedem jungen Bengel hundert Punkte vorgeben. Auch Jackson war tüchtig, er hatte sich bemüht.
Zu viert kehrten sie in den Salon zurück: der Kapitän, Re- gnier, Jackson und als letzter Coche. Er fühlte sich so wohl, daß er sogar ein Liedchen trällerte. Und die Leber gab Ruhe.
»Das wär’s, meine Damen und Herren«, erklärte er aufgeräumt und trat in die Mitte des Salons. Er hielt die Hände auf dem Rücken und wippte leicht auf den Absätzen. Es war schon angenehm, sich als bedeutende Person zu fühlen, gewissermaßen sogar als Schicksalslenker. Der Weg war lang und steinig gewesen, aber nun war er bewältigt. Was blieb, war der Erfolg.
»Der alte Coche hat sich den grauen Kopf zerbrechen müssen, doch wie einer die Spur auch verwischt, ein alter Spürhund wittert die Fuchshöhle. Mit der Ermordung Professor Sweetchilds hat der Verbrecher sich endgültig verraten, es war ein Schritt der Verzweiflung. Aber ich denke, der Mörder wird mir beim Verhör von dem indischen Tuch erzählen und manches andere noch. Im übrigen möchte ich dem Herrn russischen Diplomaten danken, der mir, ohne es zu wissen, mit einigen Fragen und Bemerkungen geholfen hat, den richtigen Weg zu finden.«
In diesem Moment des Triumphs konnte Coche sich Großmut erlauben. Er nickte Fandorin herablassend zu. Der neigte schweigend den Kopf. Sie waren ja doch widerlich, die Aristokraten mit ihrem hoffärtigen Getue, ein menschliches Wort bekam man von ihnen nicht zu hören.
»Ich fahre nicht weiter mit Ihnen. Wie man so sagt - danke für die Gesellschaft. Auch der Mörder geht an Land, den ich gleich hier auf dem Schiff Inspektor Jackson übergeben werde.«
Alle blickten hellwach den finsteren mageren Herrn an, der beide Hände in den Taschen hielt.
»Ich freue mich, daß dieser Alptraum vorüber ist«, sagte
Kapitän Cliff. »Ich weiß, Sie hatten eine Menge Unannehmlichkeiten, aber das liegt nun hinter uns. Wenn Sie es möchten, wird der Chefsteward Sie auf andere Salons verteilen. Ich hoffe, die weitere Fahrt mit unserer >Leviathan< wird Ihnen helfen, die Geschichte zu vergessen.«
»Wohl kaum«, antwortete Madame Kleber für alle. »Wir haben hier so viel Nervenkraft gelassen! Aber spannen Sie uns nicht auf die Folter, Monsieur Kommissar, und sagen Sie rasch, wer der Mörder ist.«