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Aono öffnete den Mund, als wollte er etwas sagen, aber er biß sich mit den ein wenig schiefen kräftigen Zähnen auf die Lippen und schloß die Augen. Sein Gesicht wirkte sonderbar entrückt.

»Es ergibt sich folgendes Bild des Verbrechens in der Rue de Grenelle«, erklärte Coche. »Am Abend des 15. März erschien Gintaro Aono in der Villa von Lord Littleby mit der vorgefaßten Absicht, alle Bewohner des Hauses zu töten und sich das dreieckige Tuch aus der Sammlung des Hausherrn anzueignen. Zu diesem Zeitpunkt besaß er schon ein Billett für die >Leviathan<, die vier Tage später von Southhampton nach Indien auslaufen sollte. Offensichtlich wollte der Beschuldigte in Indien nach dem Schatz von Brahmapur suchen. Wir wissen nicht, wie es ihm gelang, die unglückliche Dienerschaft zu der >Choleraimpfung< zu überreden. Wahrscheinlich hat er ein gefälschtes Papier der Pariser Mairie vorgewiesen. Das dürfte durchaus glaubhaft gewirkt haben, weil, wie ich aus der Depesche weiß, mitunter tatsächlich Medizinstudenten des Absolventensemesters der Sorbonne für prophylaktische Maßnahmen herangezogen werden. Unter den Studierenden und Stationsärzten der Universität sind viele Asiaten, so daß die gelbe Haut des abendlichen Besuchers die zum Tode verurteilten Bediensteten kaum irritiert haben mag. Am ungeheuerlichsten ist die unmenschliche Grausamkeit, mit der zwei unschuldige Kinder getötet wurden. Meine Herrschaften, ich habe nicht wenig Erfahrung im Umgang mit dem Abschaum der Gesellschaft. Im Eifer des Gefechts kann ein Bandit wohl einen Säugling in den Kamin werfen, aber so, mit kalter Berechnung, mit ruhiger Hand . Sie werden zugeben, das ist nicht französisch und nicht europäisch.«

»Vollkommen richtig!« rief Regnier zornig, und Doktor Truffo pflichtete ihm von Herzen bei.

»Das Weitere war einfach«, fuhr Coche fort. »Der Mörder überzeugte sich, daß die von den Injektionen vergifteten Bediensteten in tiefem Schlaf lagen, aus dem sie nicht wieder erwachen sollten, stieg dann seelenruhig hinauf in den ersten Stock, in den Saal, wo die Sammlung aufbewahrt wurde, und ging dort ans Werk. Er war ja überzeugt, daß der Hausherr verreist sei. Aber der unglückliche Lord Littleby war wegen eines Podagraanfalls nicht nach Spa gefahren und hielt sich zu Hause auf. Als er Glas klirren hörte, kam er in den Saal, wo er auf das barbarischste umgebracht wurde. Dieser Mord war nicht geplant, und der Verbrecher verlor seine teuflische Kaltblütigkeit. Wahrscheinlich hatte er möglichst viele Exponate mitnehmen wollen, um die Aufmerksamkeit nicht auf das verhängnisvolle Tuch zu lenken, doch jetzt mußte er sich beeilen. Vielleicht hat der Lord vor seinem Tode ja auch geschrien, und der Mörder befürchtete, man könnte die Schreie auf der Straße hören. Ob so oder anders, er nahm den für ihn unnötigen goldenen Schiwa und suchte das Weite, ohne zu bemerken, daß in der Hand des Toten das goldene Abzeichen der >Leviathan< zurückblieb. Um die Untersuchung in die Irre zu führen, stieg Aono auf seinem Rückweg durch das Fenster der Orangerie . Doch halt!« Coche griff sich an die Stirn. »Daß ich nicht eher darauf gekommen bin! Er konnte ja gar nicht auf demselben Weg zurück, wenn der Lord geschrien hatte! Vielleicht waren draußen schon Passanten zusammengelaufen? Darum schlug Aono ein Fenster der Orangerie heraus, sprang in den Garten und kletterte über den Zaun. Doch die Vorsicht war überflüssig, die Rue de Grenelle war zu dieser späten Stunde menschenleer. Selbst wenn der Lord geschrien hatte, niemand hatte es gehört.«

Die empfindsame Madame Kleber schluchzte auf. Mrs. Truffo hörte sich die Übersetzung an und schneuzte sich gefühlvoll.

Beweiskräftig, anschaulich, unstrittig, dachte Coche. Die Beweise und die Mutmaßungen der Untersuchung ergänzten sich bestens. Doch das, meine Lieben, ist noch nicht alles, was der alte Coche für euch in Reserve hat.

»Es ist nun an der Zeit, daß wir zur Ermordung Professor Sweetchilds kommen. Der Beschuldigte hat mit Recht gesagt, theoretisch hätten das außer ihm noch sechs Personen tun können. Gemach, gemach, meine Damen und Herren!« Der Kommissar hob beschwichtigend die Hand. »Ich werde jetzt beweisen, daß nicht Sie den Professor getötet haben, sondern daß es niemand anders war als unser schlitzäugiger Freund.«

Der Japaner war wie versteinert. Schlief er vielleicht? Oder betete er zu seinem japanischen Gott? Aber ob du betest oder nicht, du mußt dich doch auf die alte Schlampe, die Guillotine, legen.

Plötzlich kam dem Kommissar ein höchst unangenehmer Gedanke. Und wenn sich nun die Engländer den Japaner wegen der Ermordung Sweetchilds schnappten? Der war doch britischer Untertan gewesen! Dann würde der Verbrecher vor ein englisches Gericht gestellt, und statt auf die französische Guillotine käme er an den britischen Galgen. Nur das nicht! Wem nützte eine Gerichtsverhandlung im Ausland? Das »Verbrechen des Jahrhunderts« mußte im Justizpalast verhandelt werden und sonst nirgends! Was zählte es schon, daß Sweetchild auf einem englischen Schiff ermordet wurde. In Paris hatte es zehn Leichen gegeben und hier nur eine, überdies war das Schiff nicht ausschließlich britisches Eigentum, denn im Konsortium waren beide Länder vertreten!

Coche regte sich so auf, daß seine Gedanken sich verwirrten. Nein, Pustekuchen, sagte er im stillen, meinen Kunden kriegt ihr nicht. Gleich bin ich mit dem Theater hier fertig, dann geh ich zum französischen Konsul. Ich selbst werde den Mörder nach Frankreich bringen. Und er malte sich aus: Das Schiff legt in Le Havre an, Himmel und Menschen, Polizeioffiziere, Journalisten ...

Er mußte die Sache zu Ende bringen.

»Inspektor Jackson wird jetzt über die Ergebnisse der Durchsuchung berichten, die er in der Kabine des Beschuldigten vorgenommen hat.«

Der Inspektor wollte trocken und sachlich auf englisch losrattern, doch der Kommissar unterbrach ihn.

»Die Untersuchung wird von der französischen Polizei durchgeführt«, sagte er streng. »Die offizielle Sprache der Ermittlung ist Französisch. Außerdem wird Ihre Sprache hier nicht von allen verstanden, Monsieur. Ich bin nicht sicher, daß der Beschuldigte Englisch versteht. Sie werden zugeben, daß er das Recht hat, die Ergebnisse Ihrer Durchsuchung zu erfahren.«

Dieser Protest war von prinzipieller Bedeutung - die Engländer mußten von Anfang an in ihre Schranken gewiesen werden. Sie sollten wissen, daß sie hier nicht die erste Geige spielten.

Als Dolmetscher erbot sich Regnier. Er stellte sich neben den Inspektor und übersetzte Satz für Satz, doch er schmückte die kurzen abgehackten Äußerungen des Engländers mit dramatischer Intonation und ausdrucksstarken Gesten aus.

»Entsprechend der Instruktion wurde die Kabine Nr. 24 durchsucht. Der Name des Passagiers: Gintaro Aono. Die Kabine ist rechteckig und 200 Quadratfuß groß. Sie wurde in 20 horizontale und 44 vertikale Quadrate aufgeteilt.« Regnier fragte zurück und erklärte dann: »Die Wände werden auch in Quadrate aufgeteilt, denn sie müssen nach Geheimfächern abgeklopft werden. Ob solche freilich in einer Schiffskabine vorstellbar sind . Die Durchsuchung erfolgte zunächst in der Vertikale, dann in der Horizontale. In den Wänden wurde kein Geheimfach gefunden.« Regnier breitete vielsagend die Arme aus - wer hätte das gedacht? »Bei der Untersuchung der horizontalen Ebene wurden folgende Gegenstände gefunden und der Akte beigefügt: erstens Aufzeichnungen in Hieroglyphenschrift, die sollen übersetzt und studiert werden. Zweitens ein langer, sehr scharfer Dolch von orientalischem Aussehen. Drittens ein Sack mit elf ägyptischen

Kürbissen. Viertens unterm Bett Stücke eines zerschlagenen Kürbis. Und endlich fünftens eine Arzttasche mit chirurgischen Instrumenten. Ein großes Skalpell fehlt.«

Die Zuhörer ächzten auf. Der Japaner öffnete die Augen und warf einen kurzen Blick auf den Kommissar, sagte aber wieder nichts.

Gleich gesteht er, dachte Coche, doch er irrte. Der Asiat, ohne von seinem Stuhl aufzustehen, drehte sich jäh zu dem hinter ihm stehenden Inspektor um und schlug ihn von unten kraftvoll gegen die Hand, die den Revolver hielt. Während die Waffe in einem malerischen Bogen durch die Luft flog, war der flinke Japaner schon an der Tür, riß sie auf - und lief mit der Brust gegen zwei Colts: Im Korridor standen Polizisten. Im nächsten Moment beendete der Revolver des Inspektors seine Flugbahn, krachte auf den Tisch, und es gab einen ohrenbetäubenden Knall. Geläut, Gekreisch, Pulverqualm.