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Wie dem auch sei, die Untersuchung an Bord der »Leviathan« versprach, sich in die Länge zu ziehen, und der Kommissar ging wie immer gründlich vor. Der Kapitän Jesaja Cliff war als einziger der Schiffsoffiziere in das Geheimnis des Falles eingeweiht und hatte von der Führung der Company die Weisung erhalten, dem französischen Gesetzeshüter jedwede Unterstützung angedeihen zu lassen. Von diesem Privileg machte Coche aufs unverfrorenste Gebrauch: Er verlangte, daß die ihn interessierenden Personen in demselben Salon plaziert würden.

An dieser Stelle sei angemerkt, daß die Reisenden der ersten Klasse aus Gründen der Privatsphäre und des Wohlbehagens (in der Reklame für das Schiff hieß es: »Sie genießen die Atmosphäre eines alten englischen Landsitzes«) nicht in dem riesigen Speisesaal zusammen mit den sechshundert Trägern des volkstümlichen Silberwals ihre Mahlzeiten einzunehmen brauchten, sondern auf komfortable »Salons« verteilt wurden, von denen jeder einen eigenen Namen trug und vornehm ausgestattet war: Kristalleuchter, gebeizte Eiche und Mahagoni, Samtstühle, gleißendes Tafelsilber, gepuderte Kellner und flinke Stewards. Kommissar Coche guckte sich für seine Zwecke den Salon »Windsor« aus, der im Oberdeck am Schiffsbug gelegen war; drei Wände bestanden aus Glasfenstern, das ergab einen trefflichen Rundblick, und selbst an trüben Tagen mußte kein Licht gemacht werden. Der Samt war hier goldbraun, und die Leinenservietten trugen das Windsor-Wappen.

Rund um den ovalen Tisch mit den am Fußboden festgeschraubten Beinen (für den Fall starken Wellengangs) standen zehn Stühle mit hohen geschnitzten Lehnen. Es gefiel dem Kommissar, daß alle an einem Tisch sitzen würden, und er wies den Steward an, die Namensschildchen so aufzustellen, daß die vier Passagiere ohne Abzeichen ihm gegenüber zu sitzen kämen, so daß er sie bestens im Blick hätte. Den Kapitän wollte er an der Stirnseite der Tafel plazieren, aber daraus wurde nichts. Mister Cliff wünschte nicht, wie er sich ausdrückte, »bei diesem Theater mitzuspielen«, und etablierte sich im Salon »Yorck«, wo der neue Vizekönig von Indien mit seiner Gemahlin und zwei Generäle der indischen Armee speisten. Der Salon »Yorck« lag achtern, in maximaler Entfernung vom »Windsor«, in dem der Erste Offizier Charles Regnier residierte. Er hatte dem Kommissar von Anfang an mißfallen: sonnenverbranntes verwittertes Gesicht, aber eine süßliche Redeweise, die schwarzen Haare pomadisiert, das Schnurrbärtchen zu zwei Haken gezwirbelt. Kein Seemann, ein Hanswurst.

In den zwölf Tagen seit dem Ablegen hatte der Kommissar sich seine Salongefährten gründlich angeschaut und sich mit den Manieren vertraut gemacht (daß man während der

Mahlzeiten nicht rauchte und die Sauce nicht mit einer Brotkruste auftunkte), er hatte sich die komplizierte Geographie der schwimmenden Stadt mehr oder weniger angeeignet und sich an den Seegang gewöhnt - doch seinem Ziel war er nicht nähergekommen.

Die Situation war wie folgt.

Anfangs hatte den meisten Verdacht Sir Reginald MilfordStokes erregt, ein hagerer Mann mit rötlichem Haar und zerrauftem Backenbart, dem Anschein nach achtundzwanzig bis dreißig Jahre alt. Er zeigte ein seltsames Gebaren: Mal glotzte er grünäugig in die Ferne und antwortete nicht auf Fragen, mal wurde er plötzlich lebhaft und quatschte ohne Sinn und Verstand über die Insel Tahiti, über Korallenriffe, smaragdfarbene Lagunen und Hütten mit Dächern aus Palmblättern. Ein Psychopath. Wozu reiste der Baronet, Sproß einer begüterten Familie, nach Ozeanien? Was hatte er dort zu suchen? Die Frage nach dem fehlenden Abzeichen, zweimal gestellt, ignorierte der Aristokrat. Er blickte durch den Kommissar hindurch oder sah ihn an wie eine Fliege. Widerlicher Snob. In Le Havre, wo sie vier Stunden im Hafen gelegen hatten, war Coche zum Telegraphenamt gelaufen und hatte bei Scotland Yard Informationen über MilfordStokes angefordert: ob er zur Tobsucht neige, ob er zu seinem Vergnügen Medizin studiere. Die Antwort kam kurz vor dem Ablegen. Nichts Interessantes, für die Absonderlichkeiten gab es eine Erklärung. Aber der goldene Wal fehlte, darum konnte der rothaarige Engländer noch nicht aus der Liste der Verdächtigen gestrichen werden.

Der zweite war Monsieur Gintaro Aono, ein »japanischer Adliger«, wie es im Passagierregister hieß. Ein typischer Asiat: klein, mager, unbestimmbaren Alters, dünner Schnurrbart, stechende Schlitzaugen. Bei Tisch schwieg er zumeist.

Auf die Frage nach seiner Tätigkeit murmelte er verlegen »Offizier der kaiserlichen Armee«. Auf die Frage nach dem Abzeichen wurde er noch verlegener, versengte den Kommissar mit einem haßerfüllten Blick und sprang mit einer Entschuldigung zur Tür hinaus. Er hatte nicht mal seine Suppe aufgegessen. Verdächtig? Und wie! Überhaupt ein Wilder. Im Salon fächelte er sich mit einem bunten Papierfächer Luft zu wie ein Päderast aus den lustigen Lasterhöhlen der Rue de Rivoli. An Deck promenierte er in Holzpantinen, einem Baumwollkittel und ohne Beinkleid. Gustave Coche war selbstredend für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit, aber solch ein Affe mußte ja nicht unbedingt erster Klasse reisen.

Dann die Frauen.

Madame Renate Kleber. Blutjung, kaum über zwanzig. Die Frau eines Schweizer Bankiers. Sie reiste zu ihrem Mann nach Kalkutta. Als Schönheit konnte man sie nicht bezeichnen - spitznasig, flatterig, geschwätzig. Gleich zu Beginn der Fahrt erzählte sie herum, daß sie schwanger sei. Diesem Umstand waren alle ihre Gedanken und Gefühle untergeordnet. Sie war nett, geradezu, doch unerträglich mit ihrem Gerede von ihrer kostbaren Gesundheit, ihrer Häubchenstickerei und ähnlichem Blödsinn. Sie war ein wandelnder Bauch, obwohl ihre Schwangerschaft noch nicht lange währte und der Bauch sich bislang kaum abzeichnete. Selbstverständlich paßte Coche einen Moment ab und fragte sie nach dem Abzeichen. Die Schweizerin klapperte mit den Augen und jammerte, daß sie ewig alles verliere. Na ja, das konnte ja stimmen. Renate Kleber weckte in dem Kommissar eine Mischung von Gereiztheit und Gönnerhaftigkeit, er hielt sie nicht ernstlich für tatverdächtig.

Die zweite Dame, Miss Clarissa Stomp, nahm der erfahrene Fahnder schon mit größerem Interesse in Augenschein. Da schien etwas faul zu sein. Nach außen hin eine typische Engländerin, nichts Besonderes: farbloses Haar, aus der ersten Jugend heraus, stilles Benehmen, aber in den wässrigen Augen blitzte immer wieder so ein Teufelsfünkchen auf. Solche stillen Wasser kennen wir. Und dazu ein paar kleine Details, unwichtig, ein anderer würde sie gar nicht bemerken, doch der alte Spürhund Coche hatte scharfe Augen. Miss Stomp trug teure Kleider und Kostüme nach der letzten Pariser Mode. Sie besaß ein Täschchen aus Schildpatt (er hatte solch ein Stück in einem Schaufenster auf den Champs Ely- sees gesehen - dreihundertfünfzig Francs), doch ihr Notizbuch war alt und billig, aus einem Schreibwarenladen. Einmal saß sie bei windigem Wetter an Deck, in einen Schal gewickelt, Madame Coche besaß genau den gleichen, aus Hundewolle, der hielt warm, war aber nichts für eine englische Lady. Interessant: Die neuen Sachen dieser Clarissa Stomp waren sämtlich teuer, die alten aber billig, von niedrigster Qualität. Das paßte nicht zusammen. Einmal beim Five o’Clock Tea hatte Coche sie gefragt: »Warum stecken Sie den goldenen Wal nie an, gnädige Frau? Gefällt er Ihnen nicht? Ich finde ihn schick.« Da war sie - man denke! - rot angelaufen wie der »japanische Edelmann« und hatte gesagt, sie hätte ihn schon getragen, das habe er nur übersehen. Sie log, Coche würde es bemerkt haben. Ihm kam ein raffinierter Gedanke, aber dazu mußte ein psychologisch geeigneter Moment abgepaßt werden. Wollen doch mal sehen, wie sie reagiert, diese Clarissa.