Coche versuchte sich loszureißen, doch die Finger des Milchbarts waren wie aus Stahl. Er zerrte ein paarmal vergeblich, wollte sich aber nicht lächerlich machen und drehte sich zu Fandorin um.
»Gut, noch fünf Minuten«, knurrte er und blickte haßerfüllt in die ungerührten blauen Augen des Frechlings.
»D-danke. Um Ihren letzten Beweis zu widerlegen, sind fünf Minuten vollauf genug. Ich wußte, daß der Flüchtling auf dem Dampfer irgendwo einen Unterschlupf haben mußte. Im Unterschied zu Ihnen, Kapitän, habe ich nicht in den Schiffsräumen und Kohlenbunkern zu suchen begonnen, sondern auf dem O-oberdeck. Den >schwarzen Mann< hatten ja nur Passagiere der ersten Klasse gesehen. Da lag es nahe, anzunehmen, daß er sich hier versteckte. Und richtig, steuerbords im dritten Boot von vorn fand ich, was ich suchte: Speisereste und ein Bündel Sachen: ein paar bunte Tücher, eine Perlenschnur und etliche blanke G-ge- genstände - ein kleiner Spiegel, ein Sextant, ein Kneifer und auch ein großes Skalpell.«
»Warum soll ich Ihnen glauben?« brüllte Coche. Sein Fall zerbröselte zusehends zu Staub.
»Weil ich kein persönliches Interesse habe und b-bereit bin, meine Aussagen zu beeiden. Darf ich fortfahren?« Der Russe lächelte widerlich. »Danke. Der arme Neger wollte wohl nicht mit leeren Händen nach Hause zurückkehren.«
»Stop mal!« Regnier runzelte die Stirn. »Monsieur Fan- dorin, warum haben Sie Ihre Entdeckung nicht dem Kapitän oder mir gemeldet? Welches Recht hatten Sie, das zu verheimlichen?«
»Ich habe es nicht verheimlicht. Das Bündel habe ich dort l-liegenlassen. Und als ich nach ein paar Stunden wieder in das Boot schaute, das war schon nach der D-durchsuchung des Schiffs, war es verschwunden. Ich dachte mir, Ihre Matrosen hätten es gefunden. Jetzt zeigt sich, daß der Mörder des Professors Ihnen zuvorgekommen ist. Die Beutestücke des Negers, auch das Skalpell von Monsieur Aono, sind in seinem Besitz. Der Verbrecher hat wohl die Möglichkeit ... extremer Maßnahmen vorausgesehen und das Skalpell für alle Fälle bei sich getragen - um die Untersuchung auf eine falsche Spur zu führen. Monsieur Aono, Ihnen ist doch ein Skalpell gestohlen worden?«
Der Japaner zögerte und nickte dann.
»Und Sie haben nicht darüber gesprochen, weil ein Offizier der kaiserlichen Armee ja kein Skalpell haben k-kann, nicht wahr?«
»Der Sextant gehört mir!« erklärte der rothaarige Baronet. »Ich dachte ... Aber unwichtig. Also dieser Wilde hat ihn gestohlen. Meine Herrschaften, wenn einem von Ihnen mit dem Sextanten der Schädel eingeschlagen wird - ich habe nichts damit zu tun.«
Es war eine totale Pleite. Coche schielte verwirrt zu Jackson.
»Tut mir leid, Kommissar, aber Sie müssen die Reise fortsetzen«, sagte der Inspektor auf französisch und verzog mitfühlend die schmalen Lippen. »My apologies, Mr. Aono. If You just Stretch Your hands ... Thank You.«*
Die Handschellen klirrten kläglich.
In die eingetretene Stille hinein tönte schallend die erschrockene Stimme von Renate Kleber: »Erlauben Sie, meine
Herren, aber wer ist dann der Mörder?«
* (engl.) Entschuldigen Sie, Mr. Aono. Strecken Sie bitte die Hände vor. Danke.
DRITTER TEIL
BOMBAY-PALKSTRASSE
GINTARO AONO
18. Tag des 4. Monats mit Blick auf die Südspitze der Indischen Halbinsel
Vor drei Tagen haben wir in Bombay abgelegt, und in dieser Zeit habe ich kein einziges Mal mein Tagebuch aufgeschlagen. Das war noch nie, denn ich habe es mir zur festen Regel gemacht, täglich zu schreiben. Aber die Pause war notwendig. Ich mußte mich in den auf mich einstürmenden Gefühlen und Gedanken zurechtfinden.
Meinen inneren Umbruch gibt am besten ein Dreizeiler wieder, der in dem Moment entstand, als der Polizeiinspektor mir die Eisenketten abnahm.
Ich begriff sofort: Das ist ein sehr gutes Gedicht, besser als alle, die ich je geschrieben habe, aber der Sinn ist nicht offenkundig und bedarf der Erläuterung. Drei Tage lang grübelte ich und horchte in mich hinein, dann hatte ich wohl endlich Klarheit.
Mir war das große Wunder widerfahren, von dem jeder Mensch träumt - ich hatte den seligen Zustand Satori erlebt, den die alten Griechen Katharsis nannten. Oft genug hatte mir der Altmeister gesagt, daß Satori, wenn überhaupt, dann ganz von selbst kommt, ohne Ansporn und ohne Vorwarnungen! Der Mensch könne ein Gerechter und ein Weiser sein, könne viele Stunden täglich meditieren, Berge von heiligen Texten lesen und doch ohne Erkenntnis sterben, während irgendeinem Nichtsnutz, der dumm und sinnlos durchs Leben bummele, plötzlich der majestätische Glanz der Satori zuteil werde, wodurch sich seine nutzlose Existenz schlagartig verändere! Ich bin solch ein Nichtsnutz. Ich hatte Glück. Mit 27 wurde ich zum zweitenmal geboren.
Die Erleuchtung und Läuterung erlebte ich nicht in einem Moment der geistigen und physischen Konzentration, sondern in einem Moment der Niedergeschlagenheit, als von mir nur noch die Hülle übrig war wie bei einem geplatzten Luftballon. Aber da klirrte das dumme Eisen, und plötzlich spürte ich mit unglaublicher Schärfe, daß ich nicht ich bin, sondern ... Nein, anders. Daß ich nicht nur ich bin, sondern eine Unzahl von anderen Leben. Daß ich nicht irgendein Gintaro Aono bin, dritter Sohn des Chefberaters Seiner Erlaucht Fürst Shimatsu, sondern ein kleines, doch darum nicht minder wertvolles Teilchen eines Ganzen. Ich bin in allem Seienden, und alles Seiende ist in mir. Wie oft hatte ich diese Worte gehört, aber nicht begriffen, erfühlt habe ich sie erst am 15. Tag des 4. Monats im Jahre 11 der Meji-Ära in der Stadt Bombay, an Bord eines riesigen europäischen Dampfers. Der Wille des Allerhöchsten ist wahrlich wunderbar.
Was ist der Sinn des intuitiv in mir entstandenen Dreizeilers? Der Mensch ist ein einsames Glühwürmchen in der unendlichen Finsternis der Nacht. Sein Licht ist so schwach, daß es nur ein winziges Stück des Raums beleuchtet, und ringsum ist Dunkelheit, Kälte und Angst. Wenn man aber den verängstigten Blick emporhebt von der dunklen Erde (es bedarf nur einer
Drehung des Kopfes!), so sieht man den Himmel mit Sternen bedeckt. Sie strahlen in gleichmäßigem, hellem und ewigem Licht. Du bist in der Finsternis nicht allein. Die Sterne sind deine Freunde, sie werden dir helfen und dich nicht dem Elend überlassen. Und etwas später verstehst du etwas anderes, nicht minder Wichtiges: Ein Glühwürmchen ist auch ein Stern, genauso wie alle übrigen. Die am Himmel sehen auch dein Licht, das ihnen hilft, die Kälte und Finsternis des Alls zu ertragen.
Mein Leben wird sich sicherlich nicht ändern. Ich werde der sein, der ich war - hektisch, händelsüchtig, Leidenschaften unterworfen. Aber in der Tiefe meines Herzens wird nun stets ein zuverlässiges Wissen leben. Es wird mich in schweren Momenten retten und stützen. Ich bin keine kleine Pfütze mehr, die von einer heftigen Böe über die Welt gepustet werden kann. Ich bin ein Ozean, und kein Sturm, der als alles zerstörender Tsunami über meine Oberfläche fegt, kann die Schätze meiner Tiefen berühren.
Als ich das alles endlich begriffen hatte und mein Geist sich mit Freude füllte, entsann ich mich, daß die größte Tugend die Dankbarkeit ist. Der erste der Sterne, deren Strahlen ich in der tiefen Finsternis erblickt hatte, war Fandorin-san. Ihm verdanke ich das Wissen, daß ich, Gintaro Aono, der Welt nicht gleichgültig bin und daß das Große Außen mich nicht dem Elend überlassen wird.