Aber wie soll ich dem Menschen einer anderen Kultur erklären, daß er für immer mein Onjin ist? Dieses Wort gibt es in den europäischen Sprachen nicht. Heute habe ich mir ein Herz gefaßt und mit ihm darüber gesprochen, aber dabei ist wohl nichts Gescheites herausgekommen.
Ich paßte Fandorin-san auf dem Bootsdeck ab, denn ich wußte, daß er um punkt acht mit seinen Hanteln dorthin kommen würde.
Als er erschien, eingezwängt in sein gestreiftes Trikot (ich werde ihm sagen müssen, daß für körperliche Übungen anliegende Kleidung nicht so gut geeignet ist wie legere), trat ich zu ihm und verbeugte mich tief. »Was haben Sie denn, Monsieur Aono?« fragte er verwundert. »Warum richten Sie sich nicht wieder auf?« In solcher Haltung zu sprechen war unmöglich, darum machte ich den Rücken gerade, obwohl ich in solcher Situation die Verbeugung länger hätte halten müssen. »Ich spreche Ihnen meine unendliche Dankbarkeit aus«, sagte ich und war sehr aufgeregt. - »Schon gut«, sagte er mit einer lässigen Handbewegung. Diese Geste gefiel mir sehr - Fandorin-san wollte damit das Ausmaß der mir erwiesenen Wohltat vermindern und seinen Schuldner von dem übermäßigen Dankbarkeitsgefühl erlösen. An seiner Stelle würde jeder vornehm erzogene Japaner genauso gehandelt haben. Aber er erzielte den gegenteiligen Effekt - mein Geist füllte sich mit noch größerer Dankbarkeit. Ich sagte, fortan stünde ich ihm gegenüber in ewiger Schuld. »Was heißt schon ewige Schuld«, sagte er achselzuckend. »Ich wollte einfach diesem selbstzufriedenen Puter einen Dämpfer verpassen.« (Puter, das ist ein häßlicher amerikanischer Vogel mit komischer Gangart, erfüllt von dem Gefühl der eigenen Wichtigkeit; im übertragenen Sinne ein eitler und dummer Mensch.) Ich wußte das Taktgefühl meines Gesprächspartners zu schätzen, aber ich mußte ihm unbedingt erklären, wie sehr ich ihm verpflichtet war. »Dank dafür, daß Sie mein wertloses Leben gerettet haben«, sagte ich mit einer neuerlichen Verbeugung. »Dreifachen Dank dafür, daß Sie meine Ehre gerettet haben. Und unendlichen Dank dafür, daß Sie mir ein drittes Auge geöffnet haben, mit dem ich Dinge sehe, die ich vorher nicht sehen konnte.« Fandorin-san blickte (wie mir schien, ein bißchen ängstlich) auf meine Stirn, als erwartete er, dort würde sich jetzt ein Auge auftun und ihm zuzwinkern.
Ich sagte ihm, er sei mein Onjin, und mein Leben gehöre fortan ihm, was ihn noch mehr zu erschrecken schien. »Oh, ich träume davon, Sie in Lebensgefahr zu sehen, um Sie retten zu können, so wie Sie mich gerettet haben!« rief ich aus. Er bekreuzigte sich und sagte: »Lieber nicht. Wenn es Sie nicht gar zu sehr anficht, träumen Sie bitte von etwas anderem.«
Das Gespräch stockte. Verzweifelt schrie ich: »Sie sollen wissen, daß ich alles, aber auch alles für Sie tun werde!« Ich präzisierte meinen Schwur, um spätere Mißverständnisse zu vermeiden: »Alles, sofern es Seiner Majestät, meinem Land und der Ehre meiner Familie keinen Schaden bringt.«
Meine Worte lösten bei Fandorin-san eine seltsame Reaktion aus. Er lachte! Nein, ich werde die Rothaarigen wohl nie begreifen. »Na gut«, sagte er und drückte mir die Hand. »Wenn Sie darauf bestehen, dann bitte sehr. Wir werden wohl von Kalkutta zusammen nach Japan fahren. Sie können Ihre Schuld abtragen, indem Sie mir Japanisch-Unterricht geben.«
Dieser Mann nimmt mich nicht ernst. Ich würde gern sein Freund sein, aber Fandorin-san interessiert sich viel mehr für den Steuermann Fox, der ein beschränkter Mensch ist. Mein Wohltäter verbringt recht viel Zeit in der Gesellschaft dieses Schwätzers und lauscht aufmerksam dessen Prahlereien über Erlebnisse auf See und amouröse Abenteuer, er geht sogar mit Fox auf Wache! Ehrlich gesagt, mich kränkt das. Heute war ich Zeuge, wie Fox seine Romanze mit einer »japanischen Aristokratin« aus Nagasaki beschrieb. Er erzählte von den kleinen Brüsten, den purpurroten Lippen und sonstigen Besonderheiten dieser »Miniaturpuppe«. Es wird eine billige Nutte aus dem Matrosenviertel gewesen sein. Ein Mädchen aus anständigem Hause würde mit solch einem Barbaren kein Wort wechseln! Am ärgerlichsten war, daß Fandorin-san diesem Unsinn mit sichtlichem Interesse zuhörte. Ich wollte mich schon einmischen, aber da kam Regnier dazu und schickte Fox in irgendeiner Angelegenheit weg.
Ach ja! Ich habe noch gar nicht über ein wichtiges Ereignis an Bord geschrieben! Kurz bevor das Schiff von Bombay ablegte, geschah eine wirkliche Tragödie, neben der mein Ungemach unbedeutend erscheint.
Um halb neun am Morgen, als schon die Anker gelichtet waren und man eben die Taue lösen wollte, wurde dem Kapitän vom Ufer ein Telegramm überbracht. Ich stand an Deck und blickte auf Bombay, die Stadt, die in meinem Leben eine so wichtige Rolle gespielt hatte. Ich wollte dieses Bild für immer meinem Herzen einprägen. Darum wurde ich Zeuge des Geschehens.
Kapitän Cliff las die Depesche, und sein Gesicht veränderte sich schlagartig. So etwas hatte ich noch nie gesehen! So legt ein Schauspieler des No-Theaters die Maske des Drohenden Kriegers ab und setzt die Maske des Wahnsinnigen Leids auf. Das wettergegerbte, grobe Gesicht des alten Seebärs erzitterte. Der Kapitän gab ein Stöhnen oder Schluchzen von sich. »Oh God!« schrie er heiser. »My poor girl!«* Und er stürmte von der Brücke hinunter in seine Kabine, wie sich später herausstellte.
Die Vorkehrungen zum Ablegen wurden ausgesetzt. Das Frühstück begann wie immer, aber Leutnant Regnier verspätete sich. Alle sprachen nur von dem seltsamen Verhalten des Kapitäns und rätselten, was in dem Telegramm stehen mochte. Regnier-san kam erst, als die Mahlzeit zu Ende ging. Er sah bekümmert aus und teilte mit, daß die einzige Tochter von Cliff-san (ich schrieb schon, daß der Kapitän sie vergötterte) bei einer Feuersbrunst in ihrem Pensionat schwere Verbrennungen erlitten habe. Die Ärzte fürchteten um ihr Leben. Der Leutnant sagte, Mr. Cliff sei wie von Sinnen. Er habe be* (engl.) O Gott! Mein armes Mädchen!
schlossen, sogleich von Bord der »Leviathan« zu gehen und mit dem ersten Paketboot nach England zurückzukehren, da er jetzt bei seiner Tochter sein müsse. Der Leutnant sagte immer wieder: »Was soll bloß werden? Welch eine Unglücksfahrt!« Wir trösteten ihn nach Kräften.
Ich muß gestehen, daß ich den Entschluß des Kapitäns nicht gutheißen konnte. Sein Kummer war mir verständlich, aber ein Mann, dem eine Aufgabe anvertraut ist, hat nicht das Recht, sich von persönlichen Gefühlen leiten zu lassen. Besonders wenn er Kapitän ist und ein Schiff führt. Was würde aus einer Gesellschaft werden, deren Kaiser oder Präsident oder Premierminister Persönliches über seine Pflicht stellte? Es käme zum Chaos, während doch Sinn und Pflicht der Macht darin bestehen, das Chaos zu bekämpfen und die Harmonie zu befördern.
Ich ging wieder an Deck, um zu sehen, wie Mr. Cliff das ihm anvertraute Schiff verläßt. Und der Allmächtige erteilte mir eine neue Lehre, die Lehre des Mitleids.
Der Kapitän lief gebeugt die Schiffstreppe hinunter. In der Hand hielt er eine Reisetasche, und ein Matrose trug ihm einen Koffer hinterher. Auf der Landungsbrücke blieb der Kapitän stehen und drehte sich nach der »Leviathan« um, und ich sah sein großflächiges Gesicht naß von Tränen. Im nächsten Moment wankte er und stürzte zu Boden.
Ich eilte zu ihm. Nach seiner unterbrochenen Atmung und dem krampfhaften Zucken seiner Gliedmaßen zu urteilen, hatte er einen schweren hämorrhagischen Schlaganfall erlitten. Der herzueilende Doktor Truffo bestätigte meine Diagnose.
Ja, es kommt nicht selten vor, daß ein menschliches Gehirn den Zwiespalt zwischen der Stimme des Herzens und dem Ruf der Pflicht nicht aushält. Ich habe Kapitän Cliff unrecht getan.