Der Kranke wurde ins Hospital gebracht. Die »Leviathan« blieb an der Landungsbrücke hegen. Regnier-san, dessen Haar von der Erschütterung ergraut war, fuhr zum Telegraphenamt, um mit der Londoner Reederei zu verhandeln. Erst in der Dämmerung kam er zurück. Die Neuigkeiten: Cliff-san habe das Bewußtsein nicht wiedererlangt, die Führung des Schiffs werde provisorisch Regnier-san übernehmen, und in Kalkutta werde der neue Kapitän an Bord kommen.
Wir legten mit zehnstündiger Verspätung von Bombay ab.
In all diesen Tagen ist mir, als schwebte ich dahin. Mich freuen der Sonnenschein, die indischen Küstenlandschaften und das gemessene, müßige Leben an Bord des großen Schiffs. Selbst im Salon »Windsor«, in den ich früher nur mit Beklemmung gegangen bin, wie zur Folter, fühle ich mich jetzt beinahe heimisch. Die Tischgenossen verhalten sich anders zu mir - ohne Abscheu und ohne Argwohn. Alle sind nett und liebenswürdig, und ich verhalte mich zu ihnen auch anders als früher. Selbst Kleber-san, die ich eigenhändig hätte erwürgen können (die Ärmste!), ist mir nicht mehr zuwider. Sie ist einfach eine junge Frau, die zum erstenmal Mutter wird und ganz von dem naiven Egoismus dieses für sie neuen Zustands durchdrungen ist. Seit sie weiß, daß ich Arzt bin, stellt sie mir unentwegt medizinische Fragen und klagt über kleine Unpäßlichkeiten. Früher ist Doktor Truffo ihr Opfer gewesen, jetzt tragen wir die Last zu zweit. Und das Erstaunlichste, es wird mir nicht zuviel. Mein Status ist bedeutend höher als in der Zeit, in der ich für einen Offizier gehalten wurde. Verblüffend!
Im »Windsor« genieße ich eine privilegierte Position. Nicht nur als Arzt, sondern, wie Mrs. Truffo sich ausdrückte, als unschuldiges Opfer polizeilicher Willkür. Die Hauptsache, ich bin mit Sicherheit nicht der Mörder. Das ist bewiesen und offiziell bestätigt. Dadurch gehöre ich nun zur höchsten Kaste - zusammen mit dem Polizeikommissar und dem frischgebackenen
Kapitän (der sich übrigens kaum noch bei uns sehen läßt, er ist sehr beschäftigt, und der Steward bringt ihm das Essen auf die Brücke). Wir drei sind außer Verdacht, und niemand wirft uns verstohlen furchtsame Blicke zu.
Diese ganze »Windsor«-Gesellschaft tut mir aufrichtig leid. Mit meinem neuerworbenen geistigen Auge sehe ich deutlich, was sie alle nicht sehen, nicht einmal der scharfsinnige Fando- rin-san.
Unter meinen Nachbarn ist kein Mörder. Keiner von ihnen eignet sich für die Rolle des Verbrechers. Ich betrachte diese Leute und sehe: Sie haben Fehler und Schwächen, aber ein Mensch mit finsterem Herzen, der imstande wäre, kaltblütig elf unschuldige Menschen zu ermorden, darunter zwei Kinder, ist nicht unter ihnen. Ich würde seinen stinkenden Atem riechen. Ich weiß nicht, von wessen Hand Sweetchild-san gefallen ist, aber ich bin sicher, daß es niemand aus unserem Salon war. Der Kommissar hat sich ein wenig geirrt mit seinen Mutmaßungen: Der Verbrecher befindet sich an Bord des Dampfers, aber nicht im »Windsor«. Vielleicht hat er an der Tür gehorcht, als der Professor uns von seiner Entdeckung erzählte.
Wenn Coche-san nicht so stur wäre und die »Windsors« unvoreingenommen betrachtete, würde er begreifen, daß er seine Zeit verschwendet.
Ich gehe einen nach dem anderen durch.
Fandorin-san. Seine Unschuld liegt auf der Hand. Würde er sonst den Verdacht von mir genommen haben, als meine Schuld von niemandem bezweifelt wurde?
Die Eheleute Truffo. Der Doktor ist ein etwas komischer, doch sehr gutmütiger Mensch. Er könnte keiner Zikade etwas zuleide tun. Seine Frau ist die verkörperte englische Wohlanständigkeit. Sie könnte niemanden töten aus dem einfachen Grund, weil es unanständig wäre.
M.-S.-san. Er ist ein sonderbarer Mensch, der dauernd etwas vor sich hin murmelt und manchmal aufbraust, doch in seinen Augen ist tiefes und aufrichtiges Leid erstarrt. Mit solchen Augen begeht man keinen kaltblütigen Mord.
Kleber-san. Nun, da ist alles klar. Erstens ist es beim Menschengeschlecht nicht üblich, daß eine Frau, die im Begriff ist, neues Leben zur Welt zu bringen, mit solcher Leichtigkeit das Leben anderer zertrampelt. Schwangerschaft ist ein Mysterium, welches uns lehrt, sorgsam mit der menschlichen Existenz umzugehen. Zweitens befand sich Kleber-san zur Tatzeit bei dem Polizisten.
Und schließlich Stomp-san. Sie hat kein Alibi, aber die Vorstellung, daß sie sich von hinten an einen Bekannten heranschleicht, ihm mit ihrer schmalen, schwachen Hand den Mund zuhält und mit der anderen mein unglückseliges Skalpell ansetzt... Blödsinn. Ausgeschlossen.
Reiben Sie sich die Augen, Kommissar-san. Sie stecken in der Sackgasse.
Das Atmen fällt mir schwer. Ob ein Sturm im Anzug ist?
KOMMISSAR COCHE
Die verfluchte Schlaflosigkeit machte ihm schwer zu schaffen. Schon die fünfte Nacht litt er Höllenqualen, und es wurde immer ärger. Und fand er im Morgengrauen doch noch Vergessen, so hatte er Träume, vor denen Allah einen bewahren möge. Dann erwachte er wie zerschlagen, und in den von den nächtlichen Gesichten benommenen Kopf krochen verrückte Gedanken. Ob es wirklich an der Zeit war, in Pension zu gehen? Am liebsten hätte er auf alles gepfiffen, doch das ging nicht. Es gab nichts Schlimmeres als ein bettelarmes Alter. Irgend jemand hat es auf einen Schatz von anderthalb Milliarden Francs abgesehen, und du, Alter, sollst mit jämmerlichen hundertfünfundzwanzig im Monat auskommen.
Am Abend wetterleuchtete es am Himmel, Wind heulte in den Masten, und die »Leviathan« krängte schwerfällig in den kraftvollen schwarzen Wellen. Coche lag lange im Bett und starrte zur Decke. Die war bald dunkel, bald unnatürlich weiß - wenn ein Blitz aufzuckte. Regen peitschte auf das Deck, und auf dem Tisch fuhr löffelklirrend ein vergessenes Glas mit einer Mixtur für die kranke Leber hin und her.
Einen Sturm auf See erlebte Coche zum erstenmal, aber Angst hatte er nicht. Konnte solch ein ungeheueres Schiff etwa untergehen? Nun, es schaukelte und dröhnte, doch das würde sich wieder geben. Nur ließen die Donnerschläge ihn nicht schlafen. Kaum begann er einzudrusseln, schon krachte es wieder.
Aber er mußte wohl doch eingeschlafen sein, denn er setzte sich ruckartig auf und wußte nicht, was vorging. Sein Herz schlug so laut, daß es durch die Kabine schallte.
Nein, das war nicht das Herz, sondern die Tür.
»Kommissar!« (Poch-poch-poch.) »Kommissar!« (Poch- poch-poch.) »Machen Sie auf! Schnell!«
Wer war das? Fandorin wohl.
»Wer ist da? Was wollen Sie?« schrie Coche und preßte die Hand gegen die linke Brustseite. »Sind Sie verrückt?«
»Machen Sie auf, verdammt noch mal!«
Oho! Was für ein Ton für einen Diplomaten! Etwas Ernstes mußte geschehen sein.
»Gleich!«
Coche nahm verschämt die Nachtmütze mit der Troddel (von der alten Blanche gestrickt) ab, warf den Hausmantel über, fuhr in die Latschen.
Ein Blick durch den Türspalt - ja, Fandorin. Gehrock, Krawatte, Rohrstock mit beinernem Knauf. Glühende Augen.
»Was ist?« fragte Coche mißtrauisch, denn ihm war schon klar, daß er von dem nächtlichen Besucher etwas Scheußliches zu hören bekommen würde.
Der Diplomat sprach anders als sonst - schnell, abgerissen, ohne zu stottern.
»Ziehen Sie sich an. Nehmen Sie eine Waffe mit. Wir müssen Kapitän Regnier verhaften. Sofort. Er steuert das Schiff in die Klippen.«
Coche schüttelte den Kopf - war diese Ungereimtheit ein Traum?
»Haben Sie zuviel Haschisch geraucht, Monsieur Russe?«