»Und weshalb zum Teufel war das so wichtig für ihn?«
»Um das Schiff in die Hand zu bekommen. Er wußte, daß Cliff nach der Mitteilung die Fahrt nicht fortsetzen konnte. Fragen Sie lieber, warum Regnier ein solches Risiko einging. Doch wohl nicht aus dummem Ehrgeiz, um eine knappe Woche lang ein Schiff zu kommandieren, und dann komme, was da wolle? Es gibt nur eine Theorie: um die >Leviathan< zu versenken, mitsamt den Passagieren und der Besatzung. Die Ermittlung war schon zu dicht an ihn herangekommen, die Schlinge zog sich zusammen. Er wußte, daß die Polizei allen Verdächtigen auf die Pelle rückte. Eine Schiffskatastrophe würde alles zudecken. Dann könnte er in Ruhe nach der Schatulle mit den Edelsteinen fahnden.«
»Aber er würde doch mit uns untergehen.«
»Nein, er nicht. Wir haben eben nachgesehen - das Kapitänsboot ist bereit zum Fieren. Das ist ein kleines, aber stabiles Schiffchen, dem ein Sturm nichts anhaben kann. Es enthält einen Wasservorrat, einen Korb mit Lebensmitteln und, besonders rührend, eine Reisetasche mit Kleidungsstücken. Regnier will höchstwahrscheinlich das Schiff gleich nach dem Einlaufen in die Meerenge verlassen, aus der es nicht mehr herauskommt. Die >Leviathan< kann nicht wenden und wird selbst bei gestoppter Maschine gegen die Klippen getrieben. Vielleicht können einige sich retten, denn die Küste ist nicht weit, doch alle Verschollenen werden als ertrunken gelten.«
»Wie kann man sein so stupid, Monsieur Polizist!« mischte sich der Steuermann ein. »Wir haben schon viele Zeit verloren. Mir hat Mr. Fandorin geweckt. Er sagt, das Schiff fährt falsche Kurs. Ich will schlafen und wünsche ihm zum Teufel. Da bietet er mir Wette, hundert Pfund gegen eins, daß der Kapitän falsch steuert. Ich denke, der Russe hat Verstand verloren, aber alle wissen, die Russen sind bißchen verrückt, da kann ich leichtes Geld verdienen. Ich rauf auf die Brücke. Alles in Ordnung. Der Kapitän hat Wache, der Rudergänger steht an das Steuer. Wegen die hundert Pfund habe ich trotzdem heimlich den Kurs kontrolliert, und da ist mir Schweiß ausgebrochen! Aber zu Kapitän kein Wort. Mr. Fandorin hatte mir eingeschärft, ich soll nichts sagen. Habe ich auch nicht. Ich wünsche angenehme Wache und gehe. Das war« - der Steuermann sah zur Uhr - »vor fünfundzwanzig Minuten.«
Und er fügte auf englisch etwas für die Franzosen im allgemeinen und die französischen Polizisten im besonderen wenig Schmeichelhaftes hinzu.
Nach kurzem Zögern faßte der Kommissar endlich einen
Entschluß. Und er veränderte sich sogleich, seine Bewegungen wurden rasch und zielstrebig. Coche verfiel nicht gern aus dem Stand in Galopp, doch wenn er einmal in Gang gekommen war, brauchte man ihn nicht anzutreiben.
Während er geschwind Jacke und Hose anzog, sagte er zum Steuermann: »Fox, holen Sie zwei Matrosen aufs Oberdeck. Mit Karabinern. Der Erste Offizier soll auch kommen. Nein, lieber nicht, wir haben keine Zeit, alles noch mal zu erklären.«
Er schob seinen treuen Lefaucheux-Revolver in die Tasche und reichte dem Diplomaten eine vierläufige Mariette.
»Können Sie damit umgehen?«
»Ich habe selber einen Herstal«, antwortete Fandorin und zeigte einen kompakten schönen Revolver vor, wie Coche ihn nie gesehen hatte. »Und dies hier.« Mit einer blitzartigen Bewegung zog er aus dem Rohrstock eine schmale biegsame Klinge.
»Dann los.«
Dem Baronet wollte Coche keine Waffe geben, wer weiß, was der Verrückte damit anstellte.
Zu dritt durchschritten sie rasch den langen menschenleeren Korridor. Die Tür einer Kabine wurde geöffnet, und Renate Kleber blickte heraus. Über dem braunen Kleid hatte sie einen Schal umgelegt.
»Meine Herren, was trampeln Sie hier herum wie eine Herde Elefanten?« rief sie ungehalten. »Das Gewitter läßt mich auch so nicht schlafen.«
»Machen Sie die Tür zu und bleiben Sie in der Kabine!« sagte Coche streng und stieß die Kleber, ohne stehenzubleiben, zurück in die Kabine. Jetzt war nicht die Zeit für Höflichkeiten.
Der Kommissar hatte den Eindruck, daß auch die Tür der
Kabine 24, wo Mademoiselle Stomp wohnte, ein wenig zitterte und sich einen Spalt öffnete, aber konnte er sich in einem so verantwortungsvollen Moment um Kleinigkeiten kümmern?
An Deck schlugen ihnen Wind und Regen ins Gesicht. Sie mußten schreien, um einander zu verstehen.
Da war auch schon die Treppe, die zum Steuerhaus und zur Brücke hinaufführte. Bei der untersten Stufe wartete Fox mit zwei wachhabenden Matrosen.
»Ich sagte, mit Karabinern!« schrie Coche.
»Die sind in der Waffenkammer!« brüllte ihm der Steuermann ins Ohr. »Den Schlüssel hat der Kapitän.«
Unwichtig, gehen wir hinauf, zeigte Fandorin mit einer Geste. Sein Gesicht glänzte vor Nässe.
Coche blickte in die Runde und schüttelte sich. Durch die Nacht blinkten die stählernen Fäden des Regens, schimmerten weiß die Gischtkämme, zuckten die Blitze. Gräßlich!
Sie stiegen die eiserne Treppe hinauf, mit den Absätzen polternd und vor dem peitschenden Regen das Gesicht verziehend. Coche ging voran. Er war jetzt der wichtigste Mann auf der riesigen »Leviathan«, die mit ihrem Zweihundert-Meter-Rumpf vertrauensselig dem Untergang entgegenfuhr. Auf der letzten Stufe rutschte der Kommissar aus und bekam gerade noch die Griffstange zu fassen. Er richtete sich auf und holte tief Luft.
Über ihnen waren nur noch die funkenspeienden Schornsteine und die in der Dunkelheit kaum erkennbaren Masten.
Vor der mit Stahlnieten gespickten Tür hob Coche warnend den Finger: still! Diese Vorsicht war wohl überflüssig, denn das Meer toste dermaßen, daß die im Steuerhaus bestimmt nichts hörten.
»Hier ist Eingang zu die Kapitänsbrücke und Steuerhaus!« schrie Fox. »Ohne Erlaubnis von Kapitän darf niemand hinein!«
Coche zog den Revolver aus der Tasche und spannte den Hahn. Fandorin tat das gleiche.
»Sie werden schweigen!« warnte der Kommissar für alle Fälle den so überaus aktiven Diplomaten. »Ich mache das selbst! Oh, ich hätte nicht auf Sie hören sollen!« Und er stieß entschlossen gegen die Tür.
Sie ging nicht auf.
»Er hat sich eingeschlossen«, konstatierte Fandorin. »Sagen Sie was, Fox!«
Der Steuermann hämmerte gegen die Tür.
»Captain, it’s me, Jeremy Fox! Please open! We have an emergency!«*
Hinter der Tür tönte dumpf die Stimme Regniers: »What happened, Jeremy?«**
Die Tür blieb geschlossen.
Der Steuermann drehte sich ratlos zu Fandorin um. Der zeigte auf den Kommissar, hielt dann den Finger an die Schläfe und tat, als zöge er durch. Coche verstand die Pantomime nicht, aber Fox nickte und brüllte aus vollem Halse: »The french cop shot himself!«***
Sofort wurde die Tür aufgerissen, und Coche zeigte dem Kapitän mit Vergnügen sein nasses, doch quicklebendiges Gesicht. Und das schwarze Loch der Lefaucheux-Mündung.
Regnier stieß einen Schrei aus und prallte zurück wie von einem Schlag. Wenn das kein Indiz war: Ein Mensch mit gutem Gewissen weicht nicht so vor der Polizei zurück. * (engl.) Kapitän, ich bin’s, Jeremy Fox! Machen Sie bitte auf! Wir haben einen Notfall!
** (engl.) Was ist passiert, Jeremy?
*** (engl.) Der französische Bulle hat sich erschossen.
Coche packte ohne viel Federlesens den Seemann am Kragen seiner Segeltuchjacke.
»Es freut mich, daß die Nachricht von meinem Tod Sie dermaßen beeindruckt, Herr Radscha«, schnurrte der Kommissar, dann schnauzte er sein in ganz Paris berühmtes: »Hände über den Kopf! Sie sind verhaftet!«
Bei diesen Worten waren schon abgefeimte Pariser Halsabschneider in Ohnmacht gefallen.
Am Steuerrad war, halb umgewandt, der Rudergänger erstarrt. Er hatte gleichfalls die Hände gehoben, und das Steuerrad drehte leicht nach Steuerbord.
»Halt das Rad fest, Idiot!« fuhr Coche ihn an. »Und du« - er stieß einen der Wachhabenden leicht mit dem Finger an - »holst sofort den Ersten Offizier her, er soll das Schiff übernehmen. Einstweilen kommandieren Sie, Fox. Aber ein bißchen plötzlich! Befehlen Sie >Maschine stop< oder, was weiß ich, >volle Kraft rückwärts<, aber stehen Sie nicht da wie ein Ölgötze!«