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»Mal sehen«, sagte der Steuermann, über die Karte gebeugt. »Vielleicht ist noch nicht zu spät, backbords zu steuern.«

Mit Regnier war alles klar. Er versuchte nicht einmal, den Empörten zu spielen, stand da mit gesenktem Kopf. Die Finger seiner erhobenen Hände bebten.

»So, dann wollen wir uns mal unterhalten«, sagte Coche herzlich zu ihm. »Ach, werden wir uns schön unterhalten!«

RENATE KLEBER

Zum Frühstück erschien Renate später als die anderen und erfuhr daher als letzte von den Ereignissen der vergangenen Nacht. Alle wetteiferten darin, ihr die unvorstellbaren, un- geheurlichen Neuigkeiten mitzuteilen.

Also, Kapitän Regnier ist nicht mehr Kapitän.

Also, Regnier heißt gar nicht Regnier.

Also, er ist der Sohn jenes Radschas.

Also, er hat sie alle umgebracht.

Also, in der Nacht wäre das Schiff beinahe untergegangen.

»Wir haben friedlich in unseren Kabinen geschlafen«, flüsterte Clarissa Stomp mit vor Entsetzen geweiteten Augen. »Und dieser Mensch hat derweil das Schiff direkt gegen die Klippen gesteuert. Können Sie sich vorstellen, was dann passiert wäre? Nervenzerfetzendes Knirschen, ein Stoß, das Krachen der gerissenen Schiffshaut! Man fällt aus dem Bett und kapiert im ersten Moment überhaupt nichts. Dann Schreie, Füßetrappeln. Der Fußboden neigt sich mehr und mehr auf die Seite. Und das Schlimmste: Das Schiff steht still! Alle laufen halbnackt an Deck ...«

»Not me!«* warf Madame Truffo entschlossen ein.

»Die Matrosen versuchen, die Boote zu Wasser zu lassen«, fuhr die phantasievolle Clarissa in dem gleichen mystisch gedämpften Flüstern fort, ohne den Einwand der Doktorsfrau zu beachten. »Aber die Passagiere rennen hin und her und

* (engl.) Ich nicht!

stören. Bei jeder neuen Welle legt sich das Schiff mehr auf die Seite. Wir können uns kaum noch auf den Beinen halten und müssen uns irgendwo festklammern. Die Nacht ist schwarz, das Meer brüllt, am Himmel tobt das Gewitter ... Ein Boot wird schließlich zu Wasser gelassen, aber es haben sich so viele Menschen, vor Angst halb wahnsinnig, hineingedrängt, daß es umschlägt. Kleine Kinder .«

»Nun ist es aber g-genug«, unterbrach Fandorin sanft, doch entschieden die ausschweifende Erzählerin.

»Sie sollten maritime Romane schreiben, Madame«, sagte der Doktor mißbilligend.

Renate saß wie erstarrt, die Hand auf dem Herzen. Ihr Gesicht war ohnehin bleich und unausgeschlafen, und jetzt nahm es einen grünlichen Schimmer an.

»Nein«, sagte sie und wiederholte: »Nein.«

Dann las sie Clarissa streng die Leviten: »Weshalb erzählen Sie mir solche grausigen Dinge? Wissen Sie nicht, daß ich so etwas in meinem Zustand nicht hören darf?«

Schnauzer war nicht am Tisch. Es sah ihm nicht ähnlich, das Frühstück zu versäumen.

»Wo ist denn Monsieur Coche?« fragte Renate.

»El velhölt noch immel den Allestanten«, meldete der Japaner. Er hatte in den letzten Tagen seine Menschenscheu abgelegt und sah Renate nicht mehr mit gehetzten Augen an.

»Hat Monsieur Regnier denn wirklich diese unvorstellbaren Dinge gestanden?« fragte sie mit schwacher Stimme. »Er redet sich noch um Kopf und Kragen! Bestimmt hat sich nur sein Verstand getrübt. Wissen Sie, mir ist längst aufgefallen, daß er nicht ganz bei sich ist. Hat er denn selbst gesagt, daß er der Sohn des Radschas ist? Womöglich noch der Sohn von Napoleon Bonaparte. Der Ärmste ist einfach übergeschnappt, das ist doch klar!«

»Nicht ganz, gnädige Frau, nicht ganz«, ertönte hinter ihr die müde Stimme von Kommissar Coche.

Renate hatte ihn nicht hereinkommen hören. Der Sturm hatte zwar aufgehört, aber die See war noch unruhig, das Schiff schaukelte auf den wütenden Wellen, und fortwährend knirschte, klirrte, knarrte etwas. Der von der Kugel durchschlagene Big Ben schaukelte - früher oder später wird das eichene Monstrum hinkrachen, dachte Renate flüchtig und konzentrierte sich wieder auf Schnauzer.

»Nun, was gibt’s da, erzählen Sie!« forderte sie.

Der Polizist ging ohne Eile zu seinem Platz und setzte sich. Er winkte dem Steward, ihm Kaffee einzugießen.

»Uff, ich bin ganz erschöpft«, klagte er. »Was ist mit den Passagieren? Wissen alle Bescheid?«

»Das ganze Schiff summt, aber Einzelheiten weiß kaum jemand«, antwortete der Doktor. »Mir hat Mr. Fox alles erzählt, und ich habe es für meine Pflicht gehalten, die Anwesenden zu informieren.«

Coche blickte auf Fandorin und den rothaarigen Verrückten und schüttelte verwundert den Kopf.

»Meine Herren, Sie gehören ja nicht zu den Geschwätzigen.«

Den Sinn dieser Bemerkung begriff Renate wohl, doch das gehörte jetzt nicht zur Sache.

»Was ist mit Regnier?« fragte sie. »Hat er etwa all die Untaten gestanden?«

Schnauzer nippte mit Genuß an seinem Kaffee. Er war heute irgendwie verändert, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit einem zahnlosen Kläffer. Er konnte durchaus zuschnappen, und wenn man nicht aufpaßte, riß er einem ein Stück Fleisch ab. Renate beschloß, den Kommissar in Bulldogge umzutaufen.

»Feines Käffchen«, lobte Coche. »Natürlich hat er gestanden. Es blieb ihm nichts anderes übrig. Ich hatte freilich meine Plage mit ihm, aber der alte Coche hat ja große Erfahrung. Jetzt sitzt er da, Ihr Freund Regnier, und bringt seine Aussagen zu Papier, ist richtig in Fahrt gekommen. Ich bin gegangen, um ihn nicht zu stören.«

»Wieso >mein Freund<?« protestierte Renate. »Lassen Sie das. Er ist einfach ein höflicher Mensch, der einer schwangeren Frau kleine Gefälligkeiten erweist. Ich glaube nicht, daß er solch ein Monster ist.«

»Wenn er sein Geständnis fertig hat, geb ich’s Ihnen zu lesen«, versprach Bulldogge. »Aus alter Freundschaft. Wir haben ja viele Stunden zusammen an diesem Tisch gesessen. Das wär’s dann, die Untersuchung ist abgeschlossen. Ich hoffe, Monsieur Fandorin, Sie werden sich nicht zum Advokaten meines Kunden machen? Der kommt um die Guillotine nicht herum.«

»Eher ums Irrenhaus«, sagte Renate.

Der Russe wollte wohl auch etwas sagen, verzichtete aber. Renate sah ihn mit besonderem Interesse an. Er war so frisch und hübsch, als hätte er die ganze Nacht in seinem Bett geschlafen. Und wie immer piekfein angezogen: weißes Jackett, seidene Weste voller Sternchen. Ein sehr interessanter Typ, solchen war Renate noch nicht begegnet.

Da wurde die Tür so heftig aufgerissen, daß sie beinahe aus den Angeln flog. Auf der Schwelle stand ein Matrose, der wild mit den Augen rollte. Als er Coche sah, lief er zu ihm und flüsterte ihm etwas zu, dabei fuchtelte er verzweifelt mit den Armen.

Renate horchte, fing aber nur »Bastard« und »by my mo-

thers grave«* auf.

* (engl.) Beim Grabe meiner Mutter.

Was mochte da passiert sein?

»Doktor, kommen Sie in den Korridor.« Bulldogge schob mißmutig den Teller mit dem Rührei von sich weg. »Übersetzen Sie mir, was der junge Mann da murmelt.«

Zu dritt gingen sie hinaus.

»Waaas?« donnerte draußen der Kommissar. »Wo hattest du deine Augen, du Hund?«

Sich entfernendes Füßetrappeln. Stille.

»Ich rühre mich nicht von der Stelle, bis Monsieur Coche zurückkommt«, erklärte Renate entschlossen.

Die übrigen schienen der gleichen Meinung zu sein.

Im Salon »Windsor« herrschte gespanntes Schweigen.

Der Kommissar und Truffo kehrten nach einer halben Stunde mit finsterer Miene zurück.

»Es ist geschehen, was zu erwarten war«, verkündete feierlich der zu kurz geratene Doktor, ohne Fragen abzuwarten. »Unter die tragische Geschichte ist ein Punkt gesetzt. Das hat der Verbrecher selbst besorgt.«