Coche nahm das zweite Blatt und kündigte an: »Und jetzt kommt das Interessanteste.«
Als Kind hatte ich Unterricht im Arabischen gehabt, aber die Lehrer waren dem Erbprinzen gegenüber zu nachsichtig, und so hatte ich nur wenig gelernt. Später, als Mutter und ich in Frankreich waren, hörte der Unterricht gänzlich auf und ich vergaß bald das wenige, was ich wußte. Viele Jahre lang dünkte mich der Koran mit den Anmerkungen meines Vaters ein verwunschenes Buch, in dessen magischen Schriftzeichen sich ein gewöhnlicher Sterblicher niemals zurechtfinden kann. Wie dankbar war ich später dem Schicksal, daß ich nicht einen Kenner des Arabischen gebeten hatte, mir die Randbemerkungen
zu übersetzen! Nein, ich mußte, koste es, was es wolle, selber in dieses Geheimnis eindringen. Wieder beschäftigte ich mich mit dem Arabischen, während ich den Maghreb und die Levante bereiste. Nach und nach begann der Koran mit der Stimme meines Vaters zu mir zu sprechen. Aber es dauerte lange Jahre, bis die handschriftlichen Notizen - blumige Aussprüche von Weisen, Bruchstücke von Gedichten und Lebensratschläge des liebenden Vaters für den Sohn - mir andeuteten, daß sie eine Chiffre in sich bargen. Wenn ich die Notizen in einer bestimmten Reihenfolge las, gewannen sie den Sinn einer genauen und eingehenden Instruktion, aber das konnte nur jemand erkennen, der die Notizen auswendig gelernt, viel darüber nachgedacht und sie im Gedächtnis seines Herzens fixiert hatte. Am längsten grübelte ich über eine Zeile aus einem mir unbekannten Gedicht:
Als ich vor einem Jahr die Memoiren eines englischen Generals las, der sich mit seinen »Heldentaten« während der Großen Empörung brüstete (mein Interesse an diesem Thema dürfte verständlich sein), erfuhr ich von dem Geschenk, das der Radscha von Brahmapur vor seinem Tod seinem Sohn gemacht hatte. Also war der Koran in ein Tuch eingewickelt gewesen! Mir fiel es wie Schuppen von den Augen! Ein paar Monate später stellte Lord Littleby im Louvre seine Sammlung aus. Ich wurde der eifrigste Besucher. Als ich endlich das Tuch meines Vater sah, ging mir die Bedeutung dieser Zeilen auf:
Und auch dieser:
Muß ich erklären, daß ich in all den Jahren der Austreibung immer über die irdene Schatulle nachsann, in welcher aller Reichtum der Welt verborgen war? Oft genug habe ich im Traum erlebt, wie der Deckel aufgeht und ich wieder, wie in der fernen Kindheit, den überirdischen Glanz sehe.
Der Schatz gehört mir, ich bin der gesetzliche Erbe! Die Engländer haben mich bestohlen, konnten aber die Früchte ihres Treubruchs nicht genießen. Der schäbige Aasgeier Littleby, der sich mit seinen gestohlenen »Raritäten« brüstete, war in Wirklichkeit ein gewöhnlicher Hehler. Ich hatte nicht die geringsten Zweifel daran, im Recht zu sein, und fürchtete nur eines - daß ich die gestellte Aufgabe nicht bewältige.
Ich habe in der Tat eine Reihe unverzeihlicher, schrecklicher Fehler gemacht. Der erste war der Tod der Diener und besonders der armen Kinder. Natürlich wollte ich diese gänzlich unschuldigen Menschen nicht töten. Wie Sie richtig erraten haben, war ich als Arzt verkleidet, und ich habe ihnen eine Opiumlösung injiziert. Ich wollte sie nur in Schlaf versetzen, aber aus Unerfahrenheit und aus Furcht, das Schlafmittel könnte nicht wirken, habe ich die Dosis falsch berechnet.
Die zweite Erschütterung erwartete mich oben. Als ich das Glas der Vitrine zerschlagen hatte und mit vor Andacht zitternden Händen das Tuch meines Vaters ans Gesicht drückte, wurde plötzlich eine der Türen aufgerissen, und der Hausherr kam humpelnd heraus. Nach meinen Informationen sollte der Lord verreist sein, doch nun stand er plötzlich vor mir, noch dazu mit einer Pistole in der Hand! Ich hatte keine Wahl. Ich nahm die Schiwa-Statuette und schlug sie mit aller Kraft dem
Lord über den Kopf. Er stürzte nicht rückwärts, sondern nach vorn, umfaßte mich mit den Armen und beschmierte meine Kleider mit Blut. Unter dem offenstehenden weißen Kittel trug ich die Paradeuniform, deren dunkelblaue Hose mit roten Streifen den Hosen des Sanitätsdienstes sehr ähnelte. Ich war stolz auf meine Schlauheit, aber sie wurde mir letzten Endes zum Verhängnis. Im Todeskrampf riß mir der Unglückliche das Abzeichen der »Leviathan« vom Uniformrock. Ich bemerkte den Verlust erst, als ich wieder auf dem Schiff war. Zwar konnte ich mir ein Ersatzstück besorgen, aber die verhängnisvolle Spur war hinterlassen.
Ich weiß nicht, wie ich aus dem Haus gekommen bin. Durch die Tür traute ich mich nicht, ich kletterte über den Gartenzaun. Am Ufer der Seine kam ich zu mir. In der einen Hand hatte ich die blutige Statuette, in der anderen die Pistole - ich weiß nicht, wozu ich die mitgenommen hatte. Schaudernd vor Abscheu, warf ich beides in die Seine. Das Tuch hatte ich in der Tasche des Uniformrocks unter dem weißen Kittel, es wärmte mir das Herz.
Am nächsten Tag erfuhr ich aus der Zeitung, daß ich zum Mörder nicht nur von Lord Littleby, sondern auch von neun weiteren Menschen geworden war. Meine Empfindungen hierzu lasse ich weg.
»Gut so.« Der Kommissar nickte. »Es ist schon sentimental genug. Er redet wie vor Geschworenen. So als wie, urteilen Sie selbst, meine Herren, hätte ich denn anders handeln können? Sie an meiner Stelle hätten das gleiche gemacht. Pfui!« Und er las weiter vor.
Das Tuch brachte mich um den Verstand. Der Zaubervogel mit dem leeren Auge hatte eine seltsame Macht über mich. Ich handelte gleichsam nicht aus eigenem Antrieb, sondern einer leisen Stimme gehorchend, die mich führte und leitete.
»Na, da wirft er wohl eine Angel aus in Richtung psychischer Unzurechnungsfähigkeit.« Bulldogge lachte verstehend. »Das kennen wir, das haben wir oft gehört.«
Als wir durch den Suezkanal fuhren, verschwand das Tuch aus meinem Sekretär. Ich fühlte mich der Willkür des Schicksals ausgeliefert. Mir kam überhaupt nicht in den Sinn, das Tuch könnte gestohlen sein. Zu dem Zeitpunkt war ich schon dermaßen in der Gewalt eines mystischen Gefühls, daß mir das Tuch wie ein lebendiges beseeltes Wesen vorkam. Es hatte mich für unwürdig befunden und mich verlassen. Ich war untröstlich, und wenn ich nicht Hand an mich legte, so nur in der Hoffnung, das Tuch werde sich meiner erbarmen und zu mir zurückkehren. Es kostete mich gewaltige Mühe, Ihnen und meinen Kollegen meine Verzweiflung zu verbergen.
Und dann, am Tag vor der Ankunft in Aden, geschah das Wunder! Ich lief in die Kabine von Madame Kleber, nachdem ich ihren Schreckensschrei gehört hatte, und sah den plötzlich aufgetauchten Neger, der mein verschwundenes Tuch um den Hals trug. Jetzt ist mir klar, daß der Wilde ein paar Tage zuvor in meiner Kabine gewesen war und das bunte Tuch einfach mitgenommen hatte, aber damals spürte ich ein mit nichts zu vergleichendes heiliges Entsetzen. Der schwarze Engel der Finsternis schien aus der Hölle gekommen, um mir meinen Schatz zurückzugeben!