Nun denn, den Smaragden, Saphiren, Rubinen und Diamanten scheint es beschieden, dort so lange zu liegen, bis ein Erdbeben den Felsblock hinunterwirft. Doch selbst wenn das erst in hunderttausend Jahren geschieht, werden die Edelsteine keinen Schaden nehmen - sie sind ewig.
Ich aber bin am Ende. Das verfluchte Tuch hat meine Kräfte aufgezehrt. Das Leben hat seinen Sinn verloren. Ich bin erledigt, ich habe den Verstand verloren.
»Damit hat er recht«, sagte der Kommissar abschließend und legte das halbe Blatt weg. »Damit endet der Brief.«
»Nun, Legnier-san hat lichtig gehandelt«, sagte der Japaner. »El hat unwüldig gelebt, ist abel wüldig gestolben. Dafül wild ihm vieles velgeben, und im nächsten Leben bekommt el eine neue Chance, seine Velblechen wiedel gutzumachen.«
»Ich weiß nicht, wie das mit dem nächsten Leben ist.« Bulldogge legte die Blätter sorgfältig zusammen und verwahrte sie in der schwarzen Mappe. »Meine Untersuchung ist gottlob beendet. In Kalkutta ruhe ich mich ein wenig aus, dann geht es zurück nach Paris. Der Fall ist abgeschlossen.«
Da bereitete der russische Diplomat Renate Kleber eine Überraschung.
»A-abgeschlossen?« fragte er laut. »Sie haben es wieder zu eilig, Kommissar.« Er wandte sich Renate zu und richtete die stählernen Mündungen seiner kalten blauen Augen auf sie. »Will Madame Kleber uns denn nichts erzählen?«
CLARISSA STOMP
Diese Frage kam für alle unerwartet. Doch nein, nicht für alle - Clarissa sah verwundert, daß die werdende Mutter nicht im geringsten die Fassung verlor. Zwar wurde sie eine Spur blasser und biß sich kurz auf die volle Unterlippe, aber sie antwortete prompt und selbstsicher: »Sie haben recht, Monsieur, ich habe etwas zu erzählen. Aber nicht Ihnen, sondern dem Vertreter des Gesetzes.«
Sie warf dem Kommissar einen hilflosen Blick zu und sagte flehend: »Um Gottes willen, mein Herr, ich möchte mein Geständnis unter vier Augen machen.«
Die Ereignisse schienen für Coche eine gänzlich unerwartete Wendung zu nehmen. Er blinzelte verwirrt, sah Fan- dorin argwöhnisch an, schob gewichtig das Doppelkinn vor und dröhnte: »Gut, gehen wir in meine Kabine, wenn Sie solchen Wert darauf legen.«
Clarissa gewann den Eindruck, daß der Polizist keine Ahnung hatte, was Madame Kleber ihm gestehen würde.
Nun, das war dem Kommissar kaum vorzuwerfen - Cla- rissa kam ja mit dem Tempo der Ereignisse auch nicht mit.
Kaum hatte sich die Tür hinter Coche und seiner Begleiterin geschlossen, warf Clarissa einen fragenden Blick auf Fandorin, der als einziger zu wissen schien, was vorging. Zum erstenmal wagte sie ihn wieder direkt anzusehen, nicht von der Seite und unter gesenkten Wimpern hervor.
Noch nie hatte sie Erast (ja, im stillen konnte sie ihn beim
Vornamen nennen) so entmutigt gesehen. Seine Stirn war gefurcht, in den Augen stand Unruhe, die Finger trommelten nervös auf dem Tisch. Sollte auch dieser selbstsichere, blitzartig reagierende Mann die Kontrolle über den Lauf der Ereignisse verloren haben? In der vergangenen Nacht hatte sie ihn schon verlegen gesehen, doch nur für einen Moment. Da hatte er rasch seine Fassung wiedergefunden.
Das war so gewesen.
Nach der Katastrophe von Bombay hatte sie sich drei Tage in ihrer Kabine verkrochen. Sie hatte der Stewardeß gesagt, sie wäre krank, und hatte sich das Essen bringen lassen. Nur im Schutz der Nacht war sie spazierengegangen, wie eine Diebin.
An ihrer Gesundheit war nichts auszusetzen, aber wie sollte sie den Zeugen ihrer Schmach vor die Augen treten, besonders ihm? Der Schurke Coche hatte sie zum Gespött gemacht, sie gedemütigt, mit Schmutz beworfen. Und das Schlimmste, sie konnte ihn nicht mal der Lüge zeihen - es stimmte alles, vom ersten bis zum letzten Wort. Ja, gleich nachdem sie ihr Erbe angetreten hatte, war sie nach Paris geeilt, in die Stadt, von der sie so viel gehört und gelesen hatte. Wie eine Motte zum Licht. Und hatte sich die Flügel versengt. Die schmachvolle Geschichte hatte ihr ohnehin den letzten Krümel Selbstachtung geraubt, und jetzt wußten auch noch alle: Miss Stomp ist ein Flittchen, eine vertrauensselige Idiotin, verächtliches Opfer eines professionellen Gigolo!
Mrs. Truffo schaute zweimal herein, um nach ihrer Gesundheit zu fragen. Natürlich wollte sie sich nur an Claris- sas Demütigung weiden. Sie seufzte gekünstelt und jammerte über die Hitze, aber ihre farblosen Äuglein glitzerten triumphierend - na, meine Liebe, wer von uns ist nun eine richtige Lady?
Der Japaner kam und sagte, bei ihnen sei es üblich, einen »Klankenbesuch« zu machen. Er bot seine ärztlichen Dienste an und blickte teilnahmsvoll.
Endlich klopfte auch Fandorin. Clarissa wies ihn ab und öffnete nicht, berief sich auf ihre Migräne.
Macht nichts, sagte sie sich, während sie ihr Beefsteak in völliger Einsamkeit verzehrte. Die neun Tage bis Kalkutta werden auch vergehen. Neun Tage eingeschlossen zu sein, was war das schon, nachdem sie fast ein Vierteljahrhundert eingesperrt gewesen war. Hier hatte sie es ja viel besser als im Hause ihrer Tante. Sie war allein in einer komfortablen Kabine, hatte gute Bücher. In Kalkutta würde sie sich still und leise ans Ufer verdrücken, um dann wirklich eine neue unbeschriebene Seite anzufangen.
Aber am dritten Tag gegen Abend setzten ihr ganz andere Gedanken zu. Oh, wie recht hatte der Barde, von dem die Zeilen stammten:
Wie es aussah, hatte sie tatsächlich nichts mehr zu verlieren. Spät nachts, Mitternacht war schon vorüber, ordnete Clarissa entschlossen ihre Frisur, puderte ein wenig das Gesicht, legte das elfenbeinfarbene Kleid aus Paris an, das ihr so gut stand, und ging in den Korridor. Das Schiff schlingerte, und sie wurde von Wand zu Wand geworfen.
Bemüht, an nichts zu denken, blieb sie vor der Tür der Kabine 18 stehen, die erhobene Hand zögerte für einen Moment, nur für einen Moment, und klopfte.
Erast öffnete fast sofort. Er trug einen dunkelblauen ungarischen Hausrock mit Schnüren, aus dem breiten Ausschnitt schimmerte ein weißes Hemd.
»Ich muß mit Ihnen sprechen«, sagte Clarissa kategorisch, sie hatte nicht einmal gegrüßt.
»Guten A-abend, Miss Stomp«, sagte er rasch. »Ist etwas passiert?«
Ohne ihre Antwort abzuwarten, bat er: »Einen Moment Geduld. Ich z-ziehe mich rasch um.«
Als er sie einließ, war er im Gehrock mit tadellos gebundenem Halstuch. Mit einer Geste bat er sie, Platz zu nehmen.
Clarissa setzte sich, sah ihm in die Augen und äußerte sich wie folgt: »Unterbrechen Sie mich nicht. Wenn ich den Faden verliere, wird es noch fataler . Ich weiß, ich bin viel älter als Sie. Wie alt sind Sie? Fünfundzwanzig? Noch jünger? Macht nichts. Ich will Sie ja nicht ersuchen, mich zu heiraten. Aber Sie gefallen mir. Ich bin in Sie verliebt. Meine ganze Erziehung war darauf gerichtet, niemals und unter gar keinen Umständen so etwas zu einem Mann zu sagen, aber das ist mir jetzt gleich. Ich möchte keine Zeit mehr verlieren. Ich habe ohnehin schon die besten Jahre meines Lebens vertan. Ich verwelke, ohne erblüht zu sein. Wenn ich Ihnen auch nur ein bißchen gefalle, sagen Sie es mir. Wenn nicht, sagen Sie es auch. Nach der Schmach, die ich habe durchmachen müssen, kann es nicht mehr viel schlimmer werden. Und Sie sollen wissen: Mein Pariser ... Abenteuer war ein Alptraum, aber es tut mir nicht leid. Lieber ein Alptraum als die schläfrige Benommenheit, in der ich mein bisheriges Leben verbracht habe. Und nun antworten Sie mir, schweigen Sie nicht!«