Diese Worte waren von einem Blick auf Fandorin begleitet, einem so haßerfüllten Blick, daß Clarissa erstarrte. Was mochte seit gestern zwischen Erast und Milford-Stokes vorgefallen sein? Woher diese Feindschaft?
»Danke, lieber Reginald«, schluchzte Renate.
Sie trank ausgiebig Limonade, zog die Nase hoch und schniefte. Dann warf sie einen flehenden Blick auf ihre Gegenüber und begann: »Coche ist kein Gesetzeshüter! Er ist ein Verbrecher, ein Verrückter! Hier haben alle den Verstand verloren wegen des gräßlichen Tuchs! Sogar der Polizeikommissar!«
»Sie haben gesagt, Sie wollen ihm ein Geständnis ablegen«, erinnerte Clarissa sie feindselig. »Welches?«
* (engl.) Übersetze alles, was sie sagt, Wort für Wort.
»Ja, ich habe einen Umstand verschwiegen . Einen wesentlichen Umstand. Ich hätte bestimmt alles zugegeben, aber ich wollte zuerst den Kommissar überführen.«
»Überführen? Wessen?« fragte Milford-Stokes teilnahmsvoll.
Madame Klebers Tränen versiegten, und sie verkündete triumphierend: »Regnier hat nicht Selbstmord begangen. Kommissar Coche hat ihn umgebracht!« Und als sie die Erschütterung der Zuhörer sah, sprach sie schnell weiter. »Das ist doch offensichtlich! Versuchen Sie mal, sich in einem Zimmerchen von sechs Quadratmetern mit einem Anlauf den Kopf an der Wand zu zerschlagen! Das ist einfach unmöglich. Wenn Charles sich das Leben hätte nehmen wollen, hätte er den Schlips an das Gitter der Ventilation gebunden und wäre vom Stuhl gesprungen. Nein, Coche hat ihn ermordet! Er hat ihm etwas Schweres auf den Kopf gehauen und dann den Selbstmord vorgetäuscht - hat den bereits Toten mit dem Kopf gegen den Wandvorsprung geschleudert.«
»Aber wozu brauchte der Kommissar den Tod Regniers?« Clarissa schüttelte skeptisch den Kopf. Madame Kleber redete eindeutig Unsinn.
»Ich sage doch, er war übergeschnappt vor Habgier! An allem ist das Tuch schuld! Ob Coche wütend auf Charles war, weil der das Tuch verbrannt hatte, oder ob er ihm nicht glaubte, weiß ich nicht. Aber Coche hat ihn getötet, das steht fest. Und als ich ihm das ins Gesicht sagte, hat er es nicht mal bestritten. Er zog seinen Revolver, fuchtelte damit, drohte mir. Wenn ich nicht den Mund hielte, sagte er, werde er mich Regnier hinterherschicken.« Renate zog wieder schniefend die Nase hoch, und - Wunder über Wunder! - der Baronet reichte ihr sein Taschentuch.
Was bedeutete diese geheimnisvolle Wandlung? Er war ihr doch stets aus dem Weg gegangen!
»Ja, und dann legte er den Revolver auf den Tisch, packte mich an den Schultern und schüttelte mich. Ich hatte solche Angst, solche Angst! Ich weiß selber nicht mehr, wie ich ihn zurückstieß und die Waffe vom Tisch nahm. Entsetzlich! Ich lief vor ihm weg, um den Tisch herum, er hinter mir her. Ich drehte mich um und drückte ab, ich weiß nicht mehr, wie oft. Endlich fiel er hin. Und dann kam Herr Fandorin.«
Renate schluchzte laut. Milford-Stokes streichelte ihr behutsam die Schulter - als berührte er eine Klapperschlange.
In die Stille hinein tönte Händeklatschen. Vor Überraschung zuckte Clarissa zusammen.
»Bravo!« Fandorin war es, der klatschte. Er lächelte spöttisch. »B-bravo, Madame Kleber. Sie sind eine große Schauspielerin.«
»Was erlauben Sie sich!« Milford-Stokes verschluckte sich vor Entrüstung, doch Fandorin brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen.
»Setzen Sie sich hin und hören Sie zu. Ich erzähle Ihnen, wie es wirklich war.« Fandorin war ganz ruhig und schien nicht im geringsten zu bezweifeln, daß er die Wahrheit kannte. »Madame Kleber ist nicht nur eine hervorragende Schauspielerin, sondern überhaupt eine außergewöhnliche und talentierte Person - in jeder Beziehung. Voller Schwung und Phantasie. Leider liegt ihre wichtigste Begabung im kriminellen Bereich. Madame, Sie sind an einer ganzen Reihe von Morden beteiligt. Genauer, Sie sind nicht beteiligt, Sie sind die Anstifterin. Und Regnier war Ihr Komplize.«
»Na bitte«, sagte Renate kläglich zu Milford-Stokes. »Nun ist der auch noch übergeschnappt. Und war immer so still und ruhig.«
»Das Erstaunlichste an Ihnen ist die unglaubliche Reaktionsschnelligkeit«, fuhr Fandorin ungerührt fort. »Sie verteidigen sich nie, Sie sch-schlagen stets als erste zu, Frau Sansfond. Ich darf Sie doch mit Ihrem richtigen Namen anreden?«
»Sansfond? Marie Sansfond? Die?« rief Doktor Truffo.
Clarissa ertappte sich dabei, daß sie mit offenem Munde dasaß. Milford-Stokes zog hastig die Hand von Renates Schulter weg. Renate sah Fandorin mitleidig an.
»Ja, vor Ihnen sitzt die internationale A-abenteurerin Marie Sansfond. Legendär, genial und gnadenlos. Ihr Stil - große Maßstäbe, Erfindungsreichtum, F-frechheit. Und außerdem - keine Beweise und keine Zeugen. Sowie, last but not least, die völlige Geringschätzung von Menschenleben. Die Aussagen von Charles Regnier, auf die wir noch zurückkommen, sind zur Hälfte Wahrheit und zur Hälfte L-lüge. Ich weiß nicht, Madame, wann und unter welchen Umständen Sie diesen Mann kennenlernten, aber zweierlei steht außer Zweifel. Regnier hat Sie aufrichtig geliebt und hat versucht, den Verdacht von Ihnen abzulenken, bis zum letzten Moment seines Lebens. Und das zweite: Sie haben den Sohn des Smaragdenen Radschas angestiftet, nach seinem Erbe zu suchen, sonst würde er damit kaum so viele J-jahre gewartet haben. Sie machten sich mit Lord Littleby bekannt, verschafften sich alle notwendigen Informationen und erstellten dann einen P-plan. Offensichtlich rechneten Sie anfangs darauf, ihm das Tuch durch List abspenstig zu machen, durch V-verführung, der Lord hatte ja keine Ahnung von der Bedeutung des Stoffs. Aber Sie mußten bald erkennen, daß die Aufgabe unlösbar war, denn Littleby hing wie närrisch an seiner Sammlung und würde um nichts auf der Welt auch nur ein einziges Exponat hergegeben haben. Das Tuch zu stehlen war auch nicht möglich, denn bei den Vitrinen standen immer bewaffnete Wächter. Und da beschlossen Sie, auf Nummer Sicher zu gehen - mit minimalem Risiko und, wie es Ihr Markenzeichen ist, ohne Spuren zu hinterlassen. Haben Sie eigentlich gewußt, daß der Lord an jenem verhängnisvollen Abend nicht verreist, sondern zu Hause geblieben war? Ich bin sicher, daß Sie es wußten. Sie wollten Regnier durch vergossenes Blut noch fester an sich binden. Denn die Diener hatte ja nicht er getötet, das waren Sie.«
»Ausgeschlossen!« Doktor Truffo hob die Hand. »Eine Frau ohne medizinische Ausbildung und große Erfahrung soll in drei Minuten neun Spritzen setzen? Unmöglich!«
»Erstens kann man ja neun aufgezogene Spritzen bereithalten. Und zweitens . « Fandorin nahm mit einer eleganten Bewegung einen Apfel aus der Schale und schnitt ein Stückchen ab. »Herr Regnier hatte keine Erfahrung im Umgang mit Spritzen, im Gegensatz zu Marie Sansfond. Vergessen Sie nicht, daß sie im Kloster der Vinzentinerinnen erzogen wurde. Dieser Orden hat es sich bekanntlich zur Aufgabe gemacht, armen Menschen medizinische Hilfe zu leisten, und die Vinzentinerinnen bilden ihre Zöglinge von klein auf dazu aus, in Hospitälern, Leprastationen und Armenhäusern Dienst zu tun. Alle diese Nonnen sind hochqualifizierte Krankenschwestern, und die junge Marie war, soviel ich weiß, eine der besten.«
»Richtig, das hatte ich vergessen!« Der Doktor neigte reuevoll den Kopf. »Aber fahren Sie fort. Ich werde Sie nicht mehr unterbrechen.«
»Also, Paris, Rue de Grenelle, Abend des 15. März. In der Villa von Lord Littleby erscheinen zwei Personen: ein junger dunkelhäutiger Arzt und eine Krankenschwester mit einer bis in die Augen herabgezogenen grauen Nonnenkapuze.
Der Arzt weist ein P-papier mit dem Stempel der Pariser Mairie vor und verlangt, daß alle im Haus Anwesenden zusammengeholt werden. Die Nonne macht die Injektionen - schnell, geschickt, schmerzlos. Später findet der Pathologe bei keinem der Toten an der Einstichstelle ein Hämatom. Marie Sansfond hatte die Ausbildung in ihrer gottgefälligen Jugend nicht vergessen. Das weitere ist bekannt, darum lasse ich die Ei-einzelheiten weg: Die Diener schlafen ein, die Verbrecher steigen hinauf in den ersten Stock, Regniers kurzer Kampf mit dem Hausherrn. Beiden Tätern entging, daß das goldene Abzeichen der >Leviathan< in der Hand des Lords blieb. Später mußten Sie, Madame, Ihrem Komplizen Ihr Abzeichen geben, denn für Sie war es leichter, einen Verdacht von sich abzulenken, als für den Ersten Offizier. Außerdem hatten Sie vermutlich mehr S-selbstvertrauen als er.«