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Clarissa, die bislang Fandorin wie verzaubert angesehen hatte, warf einen raschen Blick auf Renate. Die hörte aufmerksam zu, auf ihrem Gesicht war ein verwunderter, gekränkter Ausdruck erstarrt. Wenn sie Marie Sansfond war, verriet sie sich jedenfalls nicht im geringsten.

»Mein Verdacht gegen Sie beide wurde wach an dem Tag, an dem der arme Afrikaner angeblich über Sie herfiel«, sagte der Erzähler vertraulich zu Renate und biß mit seinen regelmäßigen weißen Zähnen ein Stück von dem Apfel ab. »Das geht natürlich auf Regniers Konto - er war in Panik geraten. Sie hätten sich etwas Schlaueres einfallen lassen. Ich rekonstruiere die Kette der Ereignisse, und Sie v-verbessern mich, wenn ich mich im Detail irre. Einverstanden?«

Renate schüttelte betrübt den Kopf und stützte die runde Wange in die Hand.

»Regnier begleitete Sie zu Ihrer Kabine - Sie hatten etwas zu bereden, denn wie Ihr Komplize in seinem Geständnis schreibt, war kurz vorher das Tuch auf geheimnisvolle Weise verschwunden. Als Sie Ihre Kabine betraten, sahen Sie den riesigen Neger in Ihren Sachen wühlen, und im ersten Moment erschraken Sie, wenn Sie das Gefühl der Angst überhaupt kennen. Aber im nächsten Moment erzitterten Sie vor Freude, denn der Wilde trug das berühmte Tuch um den H-hals. Nun war alles klar: Der flüchtige Sklave hatte beim Stöbern in Regniers Kabine Gefallen an dem bunten Stück Stoff gefunden und beschlossen, seinen mächtigen Hals damit zu schmücken. Auf Ihren Schrei kam Regnier hereingelaufen, sah das Tuch, verlor die Beherrschung und zog seinen Marinedolch. Sie mußten die Geschichte mit dem angeblichen Überfall erfinden - sich auf den Fußboden legen und den sch-schweren, noch warmen Körper des Toten über sich ziehen. Das war doch bestimmt nicht sehr angenehm, oder?«

»Erlauben Sie, das sind doch alles reine Vermutungen!« widersprach Milford-Stokes hitzig. »Natürlich hat der Neger Madame Kleber überfallen, das ist doch offenkundig! Sie phantasieren schon wieder, Herr russischer Diplomat!«

»Nicht im geringsten«, entgegnete Fandorin freundlich und sah den Baronet traurig oder mitleidig an. »Ich habe doch ges-sagt, daß ich schon früher Sklaven vom Volk der Ndanga gesehen habe, in türkischer Gefangenschaft. Wissen Sie, warum die im Orient so geschätzt werden? Weil sie große Kraft und Ausdauer besitzen, sich durch ein sanftes, gutartiges Wesen auszeichnen und absolut nicht zur Aggression neigen. Sie sind ein Stamm von Ackerbauern, nicht von Jägern, und sie haben noch nie Krieg geführt. Ein Ndanga konnte sich nicht auf Madame Kleber stürzen, nicht mal im Schreck. Selbst Monsieur Aono hat sich g-gewundert, daß die Finger des Wilden keine blauen Flecke auf Ihrem Hals hinterließen. Ist das nicht seltsam?«

Renate senkte nachdenklich den Kopf, als wunderte sie sich auch darüber.

»Nun zu dem Mord an Professor Sweetchild. Kaum stand fest, daß der Indologe kurz vor der Enträtselung war, da haben Sie, Madame, ihn gebeten, sich Zeit zu nehmen und alles von Anfang an und ausführlich zu erzählen, und derweil schickten Sie Ihren Komplizen weg, angeblich nach dem Schal, in Wirklichkeit aber, um den Mord vorzubereiten. Er verstand Sie ohne Worte.«

»Falsch!« rief Renate laut. »Meine Herren, Sie alle sind Zeugen! Regnier hat sich selbst erboten! Erinnern Sie sich? Nun, Monsieur Milford-Stokes, ich hatte Sie zuerst gebeten, wissen Sie noch?«

»Stimmt«, bestätigte der Baronet. »So war es.«

»Ein T-trick für Dumme.« Fandorin winkte mit dem Obstmesser ab. »Sie wußten genau, Madame, daß der Brite Sie nicht leiden konnte und nie Ihren Launen nachkam. Sie haben die Operation wie immer geschickt ins Werk gesetzt, aber diesmal leider nicht sauber genug durchgeführt. Die Schuld auf Monsieur Aono abzuwälzen ist Ihnen nicht gelungen, obwohl Sie Ihrem Z-ziel recht nahe waren.« Hier senkte Fandorin bescheiden den Blick, damit die Zuhörer sich erinnern konnten, wer es gewesen war, der die Beweiskette gegen den Japaner zerrissen hatte.

Er ist nicht frei von Eitelkeit, dachte Clarissa, aber sie fand diesen Zug ganz liebenswert, ja, er erhöhte sogar noch die Attraktivität des jungen Mannes. Das Paradox aufzulösen half wie gewöhnlich die Poesie:

Selbst Schwächen unseres geliebten Wesens erscheinen würdig in der Liebe Augen.

Ach, Mr. Diplomat, Sie kennen die Engländerinnen schlecht. Ich vermute, Sie werden in Kalkutta einen längeren Aufenthalt einlegen.

Fandorin machte eine Pause - er ahnte nicht, daß er ein »geliebtes Wesen« sei und später als angenommen in seinem Dienstort eintreffen würde - und fuhr dann fort: »Ihre Situation wurde jetzt wirklich kritisch. Regnier hat es recht p-plastisch in seinem Brief ausgemalt. Daraufhin faßten Sie den furchtbaren, aber auf seine Art genialen Entschluß: das Schiff mitsamt dem wissensdurstigen Polizeikommissar, den Zeugen und noch tausend Menschen als Zugabe zu versenken. Was bedeutete Ihnen das Leben von tausend Menschen, wenn die Sie hinderten, die reichste Frau der Welt zu werden? Schlimmer noch - wenn die Ihr Leben und Ihre Freiheit bedrohten.«

Clarissa sah Renate mit abergläubischem Entsetzen an. Sollte diese junge Frau, die ein bißchen gemein, aber insgesamt durchschnittlich war, zu solch ungeheuerlichem Verbrechen fähig sein? Undenkbar! Aber Fandorin nicht zu glauben war auch unmöglich. Er war so überzeugend und so schön!

Über Renates Wange rann eine bohnengroße Zähre. In ihren Augen stand stummes Flehen: Wofür quält ihr mich so? Was habe ich euch getan? Die Hand der Märtyrerin glitt zum Bauch, das Gesicht verzerrte sich leidend.

»Aber nicht in Ohnmacht fallen«, riet Fandorin ihr kaltblütig. »Das beste M-mittel zur Wiedererweckung ist eine Gesichtsmassage durch Backpfeifen. Und tun Sie nicht, als wären Sie schwach und hilflos. Doktor Truffo und Doktor Aono sind überzeugt, daß Sie gesünder sind als ein B-büffel. Setzen Sie sich, Sir Reginald!« Fandorins Stimme klang wie Stahl. »Sie können später für Ihre Dame eintreten, wenn ich fertig bin. Übrigens, meine Damen und Herren, unserem Sir Reginald haben wir alle für die Rettung unseres Lebens zu danken. Ohne seine ungewöhnliche Gepflogenheit, alle drei Stunden die Koordinaten des Schiffs zu überprüfen, würde das heutige Frühstück nicht hier stattfinden, sondern auf dem M-meeresgrund. Und gefrühstückt würden wir.«

»>Wo ist Polonius?<« sagte der Baronet und lachte schallend. >»Beim Nachtmahl. Nicht wo er speist, sondern wo er gespeist wird.< Lustig.«

Clarissa krümmte sich fröstelnd. Gegen die Bordwand des Schiffs schlug eine besonders schwere Welle, auf dem Tisch klirrte das Geschirr, und der ungefüge Big Ben schwankte wieder hin und her.

»Die Menschen sind für Sie Statisten, Madame, und Statisten haben Ihnen noch nie l-leid getan. Besonders wenn es um fünfzig Millionen Pfund geht. Da ist schwer zu widerstehen. Der arme Coche, zum Beispiel, hat gezaudert. Wie plump er den Mord ausgeführt hat, unser Meister der Fahndung! Sie haben natürlich r-recht - der unglückliche Regnier hat nicht Selbstmord begangen. Ich wäre auch selbst darauf gekommen, aber Ihre offensive Taktik hat mich eine Zeitlang irregeführt. Allein schon der >A-abschiedsbrief<! Der klingt überhaupt nicht nach Abschied - Regnier hoffte noch Zeit zu gewinnen, als Verrückter durchzugehen. Hauptsächlich aber hat er auf Sie gebaut, Madame Sansfond, er hat Ihnen ganz und gar v-vertraut. Coche hat seelenruhig von der dritten Seite die Hälfte abgeschnitten, genau an der Stelle, die nach seiner Meinung am meisten nach einem Abschluß klang. Wie plump! Unser Kommissar war ganz vernarrt in den Schatz von B-brahmapur. Was Wunder - sein Gehalt für dreihunderttausend Jahre!« Fandorin lachte traurig auf. »Erinnern Sie sich, mit welchem Neid Coche von dem Gärtner erzählte, der einem Bankier so vorteilhaft seine makellose Reputation verkaufte?«