»Abel wozu mußte el Helln Legnier elmolden?« fragte der Japaner. »Das Tuch ist doch velblannt.«
»Regnier versuchte dies dem Kommissar weiszumachen und gab, um ihn zu überzeugen, sogar das Geheimnis des Tuches preis. Aber Coche glaubte es nicht.« Fandorin machte eine Pause und fügte hinzu: »Und er hatte recht.«
Im Salon herrschte Totenstille. Clarissa, die gerade eingeatmet hatte, vergaß auszuatmen. Sie begriff nicht gleich, warum sie plötzlich solch eine Last in der Brust hatte, besann sich - und atmete aus.
»Das Tuch ist also heil?« fragte der Doktor behutsam, als fürchte er, einen seltenen Vogel aufzuscheuchen. »Aber wo ist es?«
»Dieser Fetzen dünne Seide hat heute morgen dreimal den Besitzer gewechselt. Zuerst war es bei dem verhafteten Re- gnier. Der Kommissar glaubte dem Brief nicht, durchsuchte den Gefangenen und fand das T-tuch. Und da, diesen plötzlichen Reichtum in seiner Hand haltend, drehte er durch und verübte den Mord. Er konnte der Versuchung nicht widerstehen. Wie günstig alles gekommen war: Im Brief stand, das Tuch wäre verbrannt, der Mörder hatte alles zugegeben, das Schiff fuhr nach Kalkutta, und von dort war es ein Katzensprung nach Brahmapur! Da spielte Coche va banque. Er schlug dem nichtsahnenden Häftling etwas Schweres auf den Kopf, machte in Eile einen Selbstmord daraus und kam hierher in den Salon, um zu warten, bis der Posten die Leiche entdeckte. Aber nun trat Madame Sansfond in das Spiel ein, und sie trickste den Polizisten aus und auch mich. Sie sind eine beeindruckende Frau, Madame!« sagte Fandorin zu ihr. »Ich hatte erwartet, Sie würden sich zu rechtfertigen versuchen und alles Ihrem Komplizen in die Schuhe schieben, zumal er tot ist. Das wäre so ei-einfach gewesen! Doch nein, Sie gingen anders vor. An dem Benehmen des Kommissars konnten Sie ablesen, daß er das Tuch hatte, und Sie dachten nicht an Verteidigung, nein! Sie wollten den Schlüssel zu dem Schatz zurück, und Sie bekamen ihn zurück!«
»Warum muß ich mir eigentlich diesen ganzen Unfug anhören?« rief Renate mit tränenerstickter Stimme. »Sie, Monsieur, sind ein Nobody, ein Ausländer! Ich verlange, daß ein ranghoher Schiffsoffizier sich mit meinem Fall beschäftigt.«
Da nahm der kleine Doktor Haltung an, strich mit der Hand über das dünne Haar auf der olivfarbenen Glatze und erklärte mit Nachdruck: »Ein ranghoher Schiffsoffizier ist zur Stelle, Madame. Sie können davon ausgehen, daß dieses Verhör von der Schiffsführung sanktioniert ist. Fahren Sie fort, Monsieur Fandorin. Sie sagten, daß diese Frau dem Kommissar das Tuch abgenommen hat?«
»Ich bin davon überzeugt. Wie sie es fertigbrachte, sich seines Revolvers zu bemächtigen, weiß ich nicht. Wahrscheinlich hat der Ärmste sie unterschätzt. Wie dem auch sei, sie zielte auf den Kommissar und forderte, ihr auf der Stelle das Tuch auszuhändigen. Als der Alte sich sperrte, durchschoß sie ihm zuerst den einen Arm, dann den anderen, dann das Knie. Sie folterte ihn! Wo haben Sie so schießen gelernt, Madame? Vier Kugeln, und jede genau ins Ziel. Entschuldigen Sie, aber es ist schwer zu g-glauben, daß Coche Sie um den Tisch herum verfolgte, wenn er ein durchschossenes Knie und zwei verstümmelte Arme hatte. Nach dem dritten Schuß ertrug er die Schmerzen nicht mehr und rückte das Tuch heraus. Daraufhin gaben Sie dem Unglücklichen den Rest, indem Sie ihm eine Kugel mitten in die Stirn feuerten.«
»Oh my God!« kommentierte Mrs. Truffo.
Clarissa interessierte etwas anderes: »Also hat sie das Tuch?«
Fandorin nickte. »Ja.«
»Quatsch! Unsinn! Sie sind ja alle verrückt!« Renate (oder Marie Sansfond?) lachte hysterisch. »O Gott, wie absurd!«
»Das ist leicht zu klälen«, sagte der Japaner. »Madame Kle- bel muß dulchsucht welden. Wenn sie das Tuch hat, ist alles wahl. Wenn nicht, hat Monsieur Fandolin sich geillt. In solchen Fällen schneidet man sich bei uns in Japan den Bauch auf.«
»Niemals werden in meiner Gegenwart Männerhände eine Dame durchsuchen!« erklärte Milford-Stokes und stand mit drohender Miene auf.
»Und Frauenhände?« fragte Clarissa. »Madame Truffo und ich werden die Person durchsuchen.«
»Oh yes, it would take no time at all!«* stimmte die Frau des Doktors bereitwillig zu.
»Machen Sie mit mir, was Sie wollen.« Renate faltete schicksalsergeben die Hände. »Aber hinterher werden Sie sich schämen.«
Die Männer gingen hinaus, und Mrs. Truffo tastete Renate unglaublich geschickt ab. Dann blickte sie Clarissa an und schüttelte den Kopf.
Clarissa bekam Angst - um den armen Fandorin. Sollte er sich geirrt haben?
»Das Tuch ist sehr dünn«, sagte sie. »Lassen Sie mich suchen.«
Den Körper einer anderen Frau zu befühlen war sonderbar und beschämend, aber Clarissa biß die Zähne zusammen und untersuchte sorgfältig jede Naht, jede Falte, jede Rüsche an der Unterwäsche. Das Tuch war nicht da.
* (engl.) O ja, das dauert gar nicht lange.
»Sie müssen sich ausziehen!« sagte sie entschlossen. Das war schrecklich, aber noch schrecklicher war die Vorstellung, das Tuch nicht zu finden. Das wäre ein Schlag für Erast! Er würde es nicht ertragen!
Renate hob gehorsam die Arme, damit sich das Kleid leichter ausziehen ließ, und bat schüchtern: »Bei allem, was Ihnen heilig ist, Mademoiselle Stomp, tun Sie meinem Kind keinen Schaden!«
Mit zusammengebissenen Zähnen begann Clarissa ihr das Kleid aufzuknöpfen. Beim dritten Knopf klopfte es an der Tür, und Fandorin rief fröhlich: »Mesdames, beenden Sie die Visitation! Können wir hereinkommen?«
»Ja, kommen Sie«, rief Clarissa und schloß rasch die Knöpfe.
Die Männer guckten rätselhaft. Schweigend standen sie um den Tisch. Wie ein Zauberkünstler breitete Fandorin ein dreieckiges Stück Stoff auf dem Tisch aus, es schillerte in allen Regenbogenfarben.
»Das Tuch!« schrie Renate.
»Wo haben Sie es gefunden?« fragte Clarissa vollends verwirrt.
»Während Sie Madame Sansfond d-durchsuchten, haben wir auch keine Zeit verloren«, erklärte Fandorin mit zufriedener Miene. »Ich kam auf die Idee, daß diese vorausschauende Person das entlarvende Beweisstück in der Kabine des Kommissars versteckt haben könnte. Sie hatte nur wenige Sekunden Zeit und konnte nicht nach einem sicheren Versteck suchen. Und richtig, das Tuch war schnell gefunden. Sie hatte es zusammengeknüllt und unter den Teppichrand geschoben. Jetzt können Sie also den berühmten Paradiesvogel betrachten.«
Clarissa und die anderen starrten wie verzaubert auf das Tuch, das so viele Menschenleben gekostet hatte.
Es hatte die Form eines gleichschenkligen Dreiecks, jede Seite war nicht mehr als 46 Zentimeter lang. Die Zeichnung beeindruckte durch barbarische Buntheit. Vor dem Hintergrund farbenprächtiger Bäume und Früchte breitete ein Wesen, halb Frau, halb Vogel, mit spitzen Brüsten, ähnlich einer antiken Sirene, die Flügel aus. Das Gesicht war im Profil, lange gebogene Wimpern umrahmten ein kleines Augenloch, das mit feinstem Goldfaden gesäumt war. Clarissa glaubte, noch nie etwas Schöneres gesehen zu haben.
»Ja, das ist es, ohne Zweifel«, sagte Milford-Stokes. »Aber beweist Ihr Fund die Schuld von Madame Kleber?«
»Und die Reisetasche?« sagte Fandorin sanft. »Sie erinnern sich doch an die Tasche, die wir b-beide gestern im Kapitänskutter entdeckten? Unter anderem habe ich dort den Umhang gefunden, in dem wir Madame Kleber mehr als einmal gesehen haben. Die Tasche kommt zu den anderen Beweisstücken. Sicherlich finden wir darin weitere Gegenstände, die unserer guten B-bekannten gehören.«
»Was sagen Sie nun, Madame?« fragte der Doktor Renate.