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»Die Wahrheit«, antwortete sie, und ihr Gesicht veränderte sich bis zur Unkenntlichkeit.

REGINALD MILFORD-STOKES

... und in ihrem Gesicht geschah eine Veränderung, die mich bestürzte. Das schutzlose, schwache, vom Schicksalsschlag niedergedrückte Lämmlein verwandelte sich wie durch die Berührung eines Zauberstabs in eine Wölfin. Die Schultern reckten sich, das Kinn ging nach oben, die Augen bekamen ein gefährliches Feuer, und die Nasenflügel bebten. Es war, als hätten wir ein Raubtier vor uns - nein, keine Wölfin, sondern eines aus der Katzenfamilie, eine Pantherin oder Löwin, die frisches Blut wittert. Ich prallte unwillkürlich zurück. Oh, mein Schutz wurde hier nicht mehr gebraucht!

Die veränderte Mrs. Kleber warf Fandorin einen so haßlodernden Blick zu, daß selbst dieser undurchdringliche Herr zusammenzuckte.

Ich verstehe die Gefühle dieser seltsamen Frau sehr gut. Ich habe ja meine Einstellung zu dem infamen Russen auch völlig geändert. Er ist ein furchtbarer Mensch, ein bösartiger Verrückter mit einer perversen Phantasie. Wie konnte ich ihm nur Vertrauen und Achtung entgegenbringen? Unglaublich.

Ich weiß einfach nicht, wie ich Ihnen dies schreiben soll, liebste Emily. Die Feder in meiner Hand zittert vor Empörung ... Eigentlich wollte ich es Ihnen verschweigen, aber nun schreibe ich es doch, sonst wird für Sie nicht verständlich, warum meine Einstellung zu Fandorin eine solche Metamorphose durchgemacht hat.

Gestern nacht, nach all den Aufregungen und Erschütterungen, die ich Ihnen schon geschildert habe, gab es zwischen Fandorin und mir ein überaus sonderbares Gespräch, das mich in Wut und traurige Verständnislosigkeit versetzte. Er kam zu mir, dankte mir für die Rettung des Schiffs, und dann redete er mit falscher Anteilnahme, bei jedem Wort stotternd, unvorstellbaren, ungeheuerlichen Blödsinn. Er sagte folgendes, ich habe es Wort für Wort behalten: »Ich weiß von Ihrem Kummer, Sir Reginald. Kommissar Coche hat mir schon vor längerem alles erzählt. Es geht mich natürlich nichts an, und ich konnte mich lange nicht entschließen, das Gespräch darauf zu bringen, aber ich sehe, wie Sie leiden, und kann nicht gleichgültig bleiben. Ich erlaube mir, davon zu sprechen, weil ich selbst einen ebensolchen Kummer überstanden habe. Wie Ihnen jetzt, drohte mir der Verlust der Urteilskraft. Ich bewahrte meinen Verstand und schärfte ihn sogar, bezahlte jedoch mit einem großen Stück meines Herzens. Glauben Sie mir, in Ihrer Situation gibt es keinen anderen Weg. Weichen Sie nicht der Wahrheit aus, so furchtbar sie auch sein mag, und verstecken Sie sich nicht hinter einer Illusion. Und vor allem, machen Sie sich keine Vorwürfe. Es war nicht Ihre Schuld, daß die Pferde durchgingen und daß Ihre schwangere Frau aus der Kutsche fiel und zu Tode kam. Es ist eine schwere Prüfung, die Ihnen auferlegt wurde. Ich weiß nicht, welche Absicht das Schicksal mit dieser Grausamkeit verfolgt, aber ich weiß eines: Die Prüfung muß bestanden werden. Sonst ist alles zu Ende, und die Seele zerfällt.«

Ich habe gar nicht gleich begriffen, was dieser Schuft meinte. Dann ging es mir auf! Er bildete sich ein, daß Sie, meine kostbare Emily, gestorben wären! Sie wären in schwangerem Zustand aus der Kutsche gefallen und zu Tode gekommen! Wäre ich nicht so entrüstet gewesen, so würde ich dem übergeschnappten Diplomaten ins Gesicht gelacht haben! So etwas zu sagen, während ich doch weiß, daß Sie unterm lasurblauen

Himmel auf der paradiesischen Insel ungeduldig auf mich warten! Mit jeder Stunde komme ich Ihnen näher, meine zärtliche Emily. Jetzt kann nichts und niemand mehr mich aufhalten.

Nur - sonderbar - ich kann und kann mich nicht erinnern, wie und warum Sie nach Tahiti gefahren sind, noch dazu allein, ohne mich. Sie werden schwerwiegende Gründe dafür gehabt haben. Unwichtig. Wir werden uns sehen, und Sie, liebe Freundin, werden mir alles erklären.

Aber zurück zu meiner Erzählung.

Mrs. Kleber hatte sich zu ihrer vollen Größe aufgerichtet, war gar nicht mehr so klein (erstaunlich, wieviel von der Körper- und der Kopfhaltung abhängt), und sagte, hauptsächlich an Fandorin gewandt: »Alles, was Sie hier dahergeredet haben, ist kompletter Blödsinn. Kein einziger Beweis. Nichts als Vermutungen und unbegründete Folgerungen. Ja, mein richtiger Name ist Marie Sansfond, aber noch kein Gericht der Welt hat mir eine Anklage präsentieren können. Ja, ich bin oft verleumdet worden, zahlreiche Feinde haben Ränke gegen mich geschmiedet, und das Schicksal hat mir mehr als einmal übel mitgespielt, doch ich habe starke Nerven, und Marie Sansfond zu brechen ist nicht einfach. Ich habe mir nur eines vorzuwerfen - daß ich mich besinnungslos in einen Verbrecher und Wahnsinnigen verliebt habe. Wir haben uns heimlich trauen lassen, und ich trage sein Kind unter dem Herzen. Charles hat darauf bestanden, daß wir unsere Ehe geheimhalten. Wenn das ein Verbrechen ist - nun, ich bin bereit, mich einem Geschworenengericht zu stellen, aber Sie können sicher sein, Herr selbsternannter Kriminalist, ein gewiegter Advokat wird Ihre Chimären zerstreuen wie Rauch. Was können Sie mir eigentlich vorhalten? Daß ich in meiner Jugend im Kloster der grauen Schwestern lebte und armen Menschen ihre Leiden zu lindern versuchte? Ja, ich mußte gelegentlich Spritzen geben, und weiter? Da die mir aufgezwungene Konspiration mich sehr belastete und die Schwangerschaft kompliziert verlief, habe ich mich an Morphium gewöhnt, aber jetzt habe ich in mir die Kraft gefunden, die verderbliche Sucht aufzugeben. Mein heimlicher, aber, wohlgemerkt, rechtmäßiger Ehemann bestand darauf, daß ich diese Fahrt unter einem falschen Namen antrat. So kam es zu dem mysteriösen Schweizer Bankier Kleber. Dieser Betrug hat mich sehr gequält, doch hätte ich es dem geliebten Mann verweigern können? Ich ahnte ja nichts von seinem zweiten Leben, von seiner tödlichen Leidenschaft und schließlich von seinen aberwitzigen Plänen!

Charles sagte, er als Erster Offizier habe nicht das Recht, seine Ehefrau auf die Fahrt mitzunehmen, aber eine Trennung könne er auch nicht ertragen, und er sorge sich um unser Kind, darum solle ich unter falschem Namen mitfahren. Ich frage Sie: Ist das ein Verbrechen?

Ich habe gesehen, daß Charles nicht ganz bei sich war und daß irgendwelche dunklen Leidenschaften ihm zusetzten, aber natürlich wäre ich selbst in meinen schlimmsten Angstträumen nicht darauf gekommen, daß er das entsetzliche Verbrechen in der Rue de Grenelle begangen haben könnte. Ich hatte keine Ahnung, daß er der Sohn eines indischen Radschas war. Es war ein Schock für mich, daß mein Kind zu einem Viertel Inder sein würde. Das arme Kind, Sohn eines Wahnsinnigen. Für mich steht außer Zweifel, daß Charles in den letzten Tagen nicht zurechnungsfähig war. Kann denn ein psychisch gesunder Mensch auf die Idee verfallen, ein Schiff zu versenken? Es ist die Handlungsweise eines kranken Menschen. Natürlich habe ich von dem irrsinnigen Plan nichts gewußt.«

Da fiel ihr Fandorin ins Wort und fragte ekelhaft höhnisch: »Und Ihr vorsorglich eingepackter Umhang?«

Mrs. Kleber, nein, Miss Sansfond, das heißt, Madame Regnier ... Oder Madame Bagdassar? Ich weiß nicht, wie ich sie korrekt nennen soll. Gut, mag sie Madame Kleber bleiben, daran bin ich gewöhnt. Also, sie antwortete dem Inquisitor mit großer Würde: »Wahrscheinlich hat mein Mann alles für die Flucht vorbereitet und wollte mich erst im letzten Moment wecken.«

Fandorin konterte: »Aber Sie haben nicht geschlafen«, sagte er mit hochmütiger Miene. »Wir kamen den Korridor entlang und haben Sie gesehen. Sie waren vollständig bekleidet und trugen sogar den Schal um die Schultern.«