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Sie schloss die Backofentür so behutsam, als wäre sie aus kostbarstem Kristallglas.

»Ich muss los«, verkündete sie. »Das Mittagessen steht in der Wärmeklappe.«

»Vielen Dank, Mrs Mullet«, sagte Vater. »Das kriegen wir schon hin.« Wir kriegten es immer hin.

Sie öffnete die Küchentür - und stieß unvermittelt einen Schrei aus wie ein in die Enge getriebener Dachs.

»Ach herrje! Entschuldigen Sie vielmals, Colonel de Luce, aber … um Himmels willen!«

Vater und ich mussten uns an ihr vorbeidrängeln.

Es war ein Vogel. Eine Zwergschnepfe. Und zwar eine tote. Sie lag rücklings auf der Treppe, die steifen Flügel wie ein kleiner Flugsaurier ausgebreitet, die Augen mit einem ziemlich unschönen Film überzogen, und der lange schwarze nadelartige Schnabel zeigte senkrecht in die Luft. Etwas war darauf aufgespießt und wehte im Morgenwind - ein Fitzelchen Papier.

Nein, kein Papierfitzelchen, sondern eine Briefmarke.

Vater bückte sich und rang plötzlich nach Luft. Er griff sich an die Kehle, seine Hände zitterten wie Espenlaub im Herbst, und sein Gesicht war aschfahl. 

2

Es überlief mich, wie es so schön heißt, eiskalt. Erst dachte ich, er hätte einen Herzanfall, wie es Vätern mit sitzender Lebensweise öfters passiert. Eben noch bläuen sie dir ein, du sollst jeden Bissen mindestens neunundzwanzigmal kauen, am nächsten Tag stehen sie schon im Daily Telegraph:

Calderwood, Jabez, wohnhaft in The Parsonage, Frinton. Samstag, den 14ten d. Monats, mit zweiundfünfzig Jahren plötzlich verstorben … Ältester Sohn von etcetera … etcetera … hinterlässt die Töchter Anna, Diana und Trianna …

Calderwood, Jabez und seinesgleichen haben die Angewohnheit, aus heiterem Himmel in ebenjenen aufzufahren und etliche untröstliche Töchter zurückzulassen, die von Stund an allein zurechtkommen müssen.

Hatte ich nicht selbst schon ein Elternteil verloren? Vater würde doch gewiss nicht derart gemein sein!

Oder doch?

Nein. Schon schnaufte er wieder geräuschvoll wie ein Droschkengaul und streckte die Hand nach dem toten Federvieh aus. Seine langen, blassen Finger zupften die Briefmarke wie eine Pinzette von dessen Schnabel, dann steckte er den durchlöcherten Schnipsel rasch in die Westentasche. Anschließend deutete er mit dem zittrigen Zeigefinger auf den kleinen Kadaver.

»Schaffen Sie das Vieh weg, Mrs Mullet!«, sagte er mit einer

»Oje oje, Colonel de Luce«, erwiderte Mrs Mullet.«Oje oje, Colonel … ich kann doch nicht … ich glaube … ich meine …«

Aber Vater hatte bereits stampfend und schnaufend wie ein Güterzug den Rückzug in sein Arbeitszimmer angetreten.

Als Mrs M. mit der Hand vor dem Mund das Kehrblech holen lief, verdrückte ich mich ebenfalls in mein Zimmer.

Die Schlafzimmer auf Buckshaw waren riesige, düstere Zeppelin-Hangare, und meines, das sich im Süd-, beziehungsweise »Tar«-Flügel befand, war das allergrößte. Die frühviktorianische Tapete (senfgelb mit einem sonderbaren Muster, das an blutrote Garnklumpen erinnerte) ließ es noch größer wirken: eine kalte, uferlose, zugige Einöde. Sogar im Sommer war der Gang quer durchs Zimmer zum fernen Waschtisch am Fenster ein Abenteuer, vor dem jeder Polarforscher zurückgeschreckt wäre. Nicht zuletzt deswegen schob ich diesen Gang auf und kletterte schnurstracks auf mein Himmelbett, wo ich im Schneidersitz und in eine Wolldecke gehüllt bis in alle Ewigkeit hocken und über mein Leben nachsinnen konnte.

So dachte ich beispielsweise daran, wie ich versucht hatte, mit einem Buttermesser Kratzproben von meiner nach Gelbsucht aussehenden Tapete zu entnehmen. Dazu angeregt hatte mich Daffy, als sie einmal mit vor Schreck geweiteten Augen eine Geschichte von A. J. Cronin nacherzählt hatte, in der irgendein armer Teufel erst krank wurde und dann starb, weil sein Schlafzimmer mit arsenhaltiger Wandfarbe gestrichen war. Hoffnungsvoll brachte ich die abgeschabten Brösel hoch ins Labor zur Analyse.

Aber bei mir gab es keinen langweiligen Marsh-Test, vielen Dank auch! Ich zog die Methode vor, bei der Arsen erst in

Du kannst dir meine Enttäuschung sicher vorstellen, als ich herausfand, dass meine Probe keinerlei Arsen enthielt. Die Farbe bestand aus irgendeinem stinknormalen Pflanzensaft, vermutlich von der gemeinen Salweide (Salix caprea) gewonnen oder von einem anderen harmlosen, todlangweiligen Gewächs.

Irgendwie lenkte das meine Gedanken wieder zurück zu Vater.

Warum hatte ihm die Entdeckung vor der Küchentür solche Angst eingejagt? War es überhaupt Angst gewesen, was ich auf seinem Gesicht gelesen hatte?

Doch, daran bestand eigentlich kaum ein Zweifel. Was sollte es sonst gewesen sein? Mit Vaters Jähzorn, seiner Ungeduld, seiner Übermüdung, seiner unvermittelten Niedergeschlagenheit war ich nur allzu vertraut. Alle diese Stimmungen zogen hin und wieder über sein Gesicht wie Wolkenschatten über unsere englischen Hügel.

Dabei fürchtete sich Vater ganz gewiss nicht vor toten Vögeln. Ich hatte schon oft zugesehen, wie er einer dicken, runden, gebratenen Weihnachtsgans zu Leibe gerückt war und dabei sein Besteck geschwungen hatte wie ein orientalischer Mordbube. Im vorliegenden Fall durfte es ihm ja wohl kaum einen Schrecken eingejagt haben, dass das Tier noch Federn gehabt hatte. Oder war es das tote Auge gewesen?

Und die Briefmarke konnte es auch nicht gewesen sein. Vater liebte Briefmarken mehr als seine eigenen Kinder. Das Einzige, was er noch inniger geliebt hatte als diese bunten Papierchen, war Harriet gewesen. Und die war, wie schon erwähnt, tot.

So tot wie die Schnepfe.

War Vater deshalb so erschüttert gewesen?

»Nein! Nein! Geht weg!« Die barsche Stimme drang durch mein offenes Fenster und schnitt meinen Gedankenfaden - Schnips! - mitten durch.

Ich warf die Decke ab, sprang aus dem Bett, lief ans Fenster und spähte in den Küchengarten hinunter.

Es war Dogger, der da gerufen hatte. Er stand mit dem Rücken an der Gartenmauer aus verwitterten roten Ziegeln und spreizte die wettergegerbten Finger.

»Kommt mir ja nicht zu nahe! Haut ab!«

Dogger war Vaters Bediensteter, sein Faktotum. Und er war allein im Garten.

Man munkelte - beziehungsweise Mrs Mullet munkelte -, Dogger habe zwei Jahre in japanischer Kriegsgefangenschaft geschmachtet, gefolgt von über einem Jahr der Folter, des Hungers, der Mangelernährung und Zwangsarbeit an der Eisenbahnlinie des Todes, zwischen Thailand und Burma, wo er, so hieß es, gezwungen gewesen war, sich von Rattenfleisch zu ernähren.

»Du musst nachsichtig mit ihm sein, Schatz«, hatte sie gemeint. »Er ist völlig mit den Nerven runter.«

Ich schaute zu ihm hinab, wie er so im Gurkenbeet stand, die vorzeitig weiß gewordenen Haare nach allen Seiten abstehend und den Blick, allem Anschein nach ohne etwas zu sehen, gen Himmel gerichtet.

»Ist schon gut, Dogger«, rief ich. »Ich hab sie von hier oben aus im Griff.«

Ich dachte schon, er hätte mich nicht gehört, doch da wandte

»Alles klar, Dogger«, rief ich. »Sie sind weg.«

Da sackte er in sich zusammen, als hätte man ihm den Strom abgeschaltet.

»Miss Flavia?« Seine Stimme bebte. »Bist du das, Miss F lavia?«

»Ich komm runter!«, rief ich. »Bin gleich da.«

Ich sauste wie ein geölter Blitz die Hintertreppe hinunter in die Küche. Mrs Mullet war nach Hause gegangen, aber der Schmandkuchen stand zum Abkühlen am offenen Fenster.

Nein, dachte ich, Dogger braucht jetzt etwas zu trinken. Vater verwahrte seinen Whisky in einem verschlossenen Bücherschrank in seinem Arbeitszimmer. Außerdem durfte ich ihn dort nicht stören.

Zum Glück entdeckte ich in der Speisekammer einen Krug kalter Milch. Ich goss ein großes Glas ein und rannte in den Garten.

»Bitteschön!«