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Dogger nahm das Glas mit beiden Händen entgegen, starrte es lange an, als wüsste er nicht recht, was er damit anfangen sollte, dann setzte er es zitternd an die Lippen. Er trank es mit langen Zügen aus und gab es mir zurück.

Er sah beinahe glückselig aus, wie ein Engel von Raffael, aber dieser Eindruck verflüchtigte sich rasch wieder.

»Du hast einen weißen Schnurrbart«, stellte ich fest, bückte mich zu den Gurken hinab, riss ein großes grünes Blatt ab und wischte ihm damit über die Oberlippe.

Sein leerer Blick belebte sich.

»Milch und Gurken …«, stammelte er. »Gurken und Milch …«

»Gift!«, rief ich, vollführte Luftsprünge und schlug mit den Armen wie ein Huhn mit den Flügeln, um ihm zu zeigen, dass

Er blinzelte.

»Meine Güte!«, sagte er und sah sich im Garten um, wie eine Prinzessin, die soeben aus einem hundertjährigen Schlaf erwacht, »also, wenn das kein schöner Tag wird …!«

Vater erschien nicht zum Mittagessen. Probehalber legte ich das Ohr an die Tür zu seinem Arbeitszimmer und wartete so lange, bis ich hörte, wie drinnen die Seiten der philatelistischen Zeitschrift umgeblättert wurden und die väterliche Kehle sich räusperte. Die Nerven, dachte ich mir.

Am Tisch war Daphne, die Nase tief in ihrem Horace Walpole, ihr Gurkensandwich lag aufgeweicht und in Vergessenheit geraten vor ihr. Ophelia seufzte unablässig vor sich hin, schlug die Beine übereinander, dann wieder auseinander und schließlich wieder übereinander und starrte ins Leere, sodass ich nur vermuten konnte, dass sie in Gedanken mit Ned Cropper, dem Hansdampf in allen Gassen aus dem Dreizehn Erpel, flirtete. Sie war viel zu versunken in ihren überheblichen Tagtraum, um mitzubekommen, dass ich mich vorbeugte und einen prüfenden Blick auf ihre Lippen warf, als sie geistesabwesend nach einem Rohrzuckerwürfel langte, ihn in den Mund steckte und draufloslutschte.

»Mensch«, verkündete ich aufs Geratewohl, »morgen früh werden die Pickel aber prächtig sprießen.«

Sie stürzte sich auf mich, aber ich war schneller als sie mit ihren Flossen.

Oben schrieb ich in mein Labortagebuch:

Freitag, 2. Juni 1950, 13.07 Uhr. Noch keine erkennbare Reaktion. »Ohne Geduld keine Genialität« - Disraeli

Ich konnte nicht einschlafen. Meistens schlafe ich wie ein Stein, kaum dass das Licht aus ist, aber an diesem Abend war es anders. Ich lag auf dem Rücken, die Hände hinter dem Kopf verschränkt, und ließ den Tag noch einmal an mir vorüberziehen.

Da war zunächst der Vorfall mit Vater. Nein, das war nicht ganz richtig. Zuerst hatte der tote Vogel auf der Schwelle gelegen - dann hatte Vater auf den Anblick reagiert. Ich glaubte zwar, Angst in seinem Gesicht gelesen zu haben, aber mich plagte trotzdem ein klitzekleiner Zweifel.

In meinen Augen - in unser aller Augen - kannte Vater keine Furcht. Er hatte im Krieg viel Schreckliches erlebt, dermaßen Schreckliches, dass man ihn am besten nicht darauf ansprach. Er hatte Harriets Verschwinden und die Nachricht von ihrem Tod verkraftet. Und stets war er tapfer, standhaft, zäh und unerschütterlich gewesen. Unglaublich britisch. Immer Haltung bewahren! Aber diesmal …

Zum anderen der Vorfall mit Dogger: Arthur Wellesley Dogger, um ihn »vollständig samt seinem Vatersnamen« (wie er es an seinen besseren Tagen nannte) zu bezeichnen. Dogger war ursprünglich als Vaters Diener zu uns gekommen; aber dann, als »die äußerst vielfältigen Pflichten« (seine Worte, nicht meine), die diese Stellung mit sich brachte, ihn gar zu sehr drückten, fand er es »opportuner«, erst zum Butler ernannt zu werden, dann zum Chauffeur, dann zum Haushandwerker und zu guter Letzt wieder zum Chauffeur. In den letzten paar Monaten war er die Karriereleiter wie ein welkes Blatt sanft hinuntergetrudelt, bis er auf seinem gegenwärtigen Posten als Gärtner zur Ruhe gekommen war und Vater unseren Hillman Kombi der Tombola von St. Tankred gestiftet hatte.

Armer Dogger! So dachte ich, obwohl mich Daphne ermahnt hatte, so dürfe man über niemanden denken oder sprechen. »Das ist nicht nur herablassend, sondern schließt obendrein jede künftige Verbesserung aus.«

Trotzdem. Wer hätte den Anblick vergessen können, wie Dogger an der Mauer gestanden hatte? Ein einfältiger Bär von einem Mann, der hilflos dasteht, die Haare ebenso in Unordnung wie sein Werkzeug, und einer Miene, als ob … als ob …

Ein leises Rascheln lenkte mich ab. Ich drehte den Kopf lauschend zur Seite.

Nichts.

Es ist nun mal so, dass ich zufälligerweise unglaublich gut höre, dass ich, wie Vater einmal meinte, die Spinnweben an den Wänden klappern höre wie Hufeisen. Auch Harriet hat so gut gehört, und manchmal stelle ich mir vor, dass ich in gewisser Hinsicht ein absurdes Überbleibsel von ihr bin: zwei geisterhafte Ohren, die durch die heiligen Hallen von Buckshaw spuken und Dinge hören, die vielleicht lieber ungehört blieben.

Aber da war es wieder! Der Widerhall einer Stimme, dumpf und tonlos, als raunte jemand in eine leere Keksdose.

Ich schlüpfte aus dem Bett und huschte auf Zehenspitzen ans Fenster. Ohne den Vorhang beiseitezuziehen, spähte ich in den Küchengarten hinunter, gerade als der Mond zuvorkommenderweise hinter einer Wolke hervorglitt und die Szenerie in ein Licht tauchte, wie es gut zu einer erstklassigen Aufführung von Ein Sommernachtstraum gepasst hätte.

Aber mehr als seine silbernen Strahlen, die zwischen Gurken und Rosen umhertanzten, war nicht zu erkennen.

Dann hörte ich jemanden reden: eine Art zorniges Brummen wie von einer Biene im Spätsommer, die gegen eine Fensterscheibe fliegt. Ich warf einen von Harriets seidenen japanischen Morgenmänteln über (einen von zweien, die ich vor der großen Säuberung gerettet hatte), schlüpfte in die perlenbestickten indianischen Mokassins, die mir als Hausschuhe dienten, und schlich zum Treppenabsatz. Die Stimme kam von irgendwo aus dem Haus.

Auf Buckshaw gab es zwei Haupttreppen, die sich spiegelbildlich

Ich legte das Ohr an die Tür.

»Abgesehen davon, Schnäppi«, sagte eine schurkische Stimme hinter der Täfelung, »wie konntest du mit dieser Erkenntnis weiterleben? Wie konntest du einfach so weitermachen?«

Einen beklemmenden Augenblick lang dachte ich schon, der Schauspieler Georg Sanders wäre nach Buckshaw gekommen und würde Vater hinter verschlossenen Türen eine Gardinenpredigt halten.

»Verschwinde«, sagte Vater. Sein Ton war zwar nicht ärgerlich, aber so ruhig und beherrscht, dass ich genau wusste, wie zornig er war. Ich sah seine gefurchte Stirn, seine geballten Fäuste und die wie Bogensehnen gespannten Kiefermuskeln vor mir.

»Reg dich ab, alter Junge«, entgegnete die ölige Stimme. »Wir stecken da gemeinsam drin. Ein für alle Mal. Das weißt du genauso gut wie ich.«

»Twining hatte Recht«, sagte Vater. »Du bist wirklich eine widerwärtige Kreatur.«

»Twining? Der olle Teebeutel ist doch inzwischen seit drei ßig Jahren tot, Schnäppi, genau wie Jacob Marley. Und ebenso wie Marleys treibt auch sein Geist noch immer sein Unwesen. Wie dir vielleicht aufgefallen ist.«

»Und wir haben ihn umgebracht«, sagte Vater tonlos.

Hatte ich mich verhört? Das konnte doch nicht …

Ich nahm das Ohr von der Tür, beugte mich zum Schlüsselloch hinunter und verpasste deshalb Vaters nächste Worte. Er stand neben dem Schreibtisch mit dem Gesicht zur Tür. Der

Ich spitzte wieder die Ohren.

»… Schande verjährt nicht«, sagte der Fremde. »Was sind schon ein paar Tausender für dich, Schnäppi? Du musst nach Harriets Tod doch einen ordentlichen Reibach gemacht haben. Mensch, allein die Versicherung …«

»Halt dein dreckiges Maul!«, rief Vater. »Und verschwinde, sonst …«

Da packte mich jemand von hinten und drückte mir eine raue Hand auf den Mund. Mir blieb fast das Herz stehen.

Der Griff war so fest, dass ich nicht mal zappeln konnte.

»Geh wieder ins Bett, Miss Flavia«, raunte mir jemand heiser ins Ohr.

Es war Dogger.

»Das hier geht dich nichts an«, flüsterte er. »Geh wieder ins Bett.«

Er lockerte seinen Griff. Ich riss mich los und warf ihm einen giftigen Blick zu.

Obwohl kein Licht brannte, konnte ich erkennen, dass sein Blick ein bisschen milder wurde.

»Zisch ab!«, raunte er.

Also zischte ich ab.

In meinem Zimmer ging ich eine ganze Weile wütend auf und ab, wie immer, wenn mir jemand einen Strich durch die Rechnung gemacht hatte.

Ich ließ mir das Gehörte noch einmal durch den Kopf gehen. Vater ein Mörder? Ausgeschlossen! Wahrscheinlich gab es eine ganz harmlose Erklärung. Hätte ich doch nur den Rest der Unterhaltung mit angehört … Hätte mich Dogger bloß nicht erwischt! Was bildete der Kerl sich überhaupt ein?

Dir werd ich’s zeigen, dachte ich.

»Und zwar ohne viel Federlesens!«, verkündete ich laut.

Ich ließ José Iturbi aus seiner grünen Papierhülle gleiten, zog mein tragbares Grammophon tüchtig auf, legte die zweite Seite von Chopins Polonaise in As-Dur auf den Plattenteller, warf mich aufs Bett und sang schallend:

»DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah, DAH-dah-dah-dah …«

Es klang wie die Begleitmusik zu einem Film, in dem jemand einen alten Bentley ankurbelt, der andauernd stotternd wieder ausgeht. Nicht gerade das, womit man sich sanft ins Land der Träume wiegen lässt …

Als ich die Augen aufschlug, stahl sich perlgrau die Morgendämmerung zum Fenster herein. Die Zeiger meines Messingweckers standen auf 3:44 Uhr. Mit der Sommerzeit wurde es immer sehr früh hell, und in nicht mal einer Viertelstunde würde die Sonne aufgehen.

Ich reckte mich gähnend und kletterte aus dem Bett. Der Plattenspieler war längst stehen geblieben, mitten in der Polonaise; die Nadel lag reglos auf der Rille. Ich erwog flüchtig, ihn wieder aufzuziehen und das Haus mit einem polnischen Weckruf zu beglücken, aber dann fiel mir ein, was erst vor wenigen Stunden geschehen war.

Ich ging zum Fenster und schaute in den Garten hinunter. Dort lag der Geräteschuppen mit seinen taubeschlagenen Scheiben, und der kantige Umriss dort drüben war Doggers umgekippte Schubkarre, die er in der Aufregung des Vortags einfach hatte liegen lassen.

Ich beschloss, die Schubkarre zur Wiedergutmachung richtig hinzustellen, auch wenn ich selbst nicht recht wusste, was ich eigentlich bei Dogger wiedergutzumachen hatte. Trotzdem zog ich mich an und ging leise die Hintertreppe zur Küche hinunter.

Als ich am Fenster vorbeikam, fiel mir auf, dass jemand Mrs Mullets Kuchen angeschnitten hatte. Merkwürdig, dachte ich, denn von uns de Luces war es bestimmt niemand gewesen. Falls es irgendetwas gab, worin wir uns einig waren, etwas, das uns als Familie zusammenhielt, dann war es die einmütige Abneigung gegenüber Mrs Mullets Schmandkuchen.

Jedes Mal, wenn sie statt der von uns geschätzten Rhabarberoder Stachelbeerkuchen einen ihrer gefürchteten Schmandkuchen produzierte, ließen wir uns entschuldigen, täuschten irgendwelche familiären Seuchen vor und schickten sie mitsamt dem Kuchen sowie unseren allerbesten Grüßen schnurstracks nach Hause zu ihrem Gatten Alf, damit sie ihr Machwerk an selbigen verfütterte.

Als ich ins Freie trat, sah ich, dass das silbrige Licht der Morgendämmerung den Garten in ein Zauberland verwandelt hatte, dessen nächtliche Schatten vom schmalen Streifen des Tages jenseits der Mauern noch vertieft wurden. Über allem lag funkelnder Tau, und es hätte mich nicht im Geringsten gewundert, wenn hinter einem Rosenstrauch ein Einhorn hervorgetreten wäre und mir den Kopf in den Schoß gelegt hätte.

Dicht vor der Schubkarre stolperte ich und plumpste auf Hände und Knie.

»Scheiße!«, fluchte ich und sah mich sofort um, ob mich womöglich jemand gehört hatte. Ich war mit feuchtem schwarzem Lehm verschmiert.

»Scheiße!«, wiederholte ich etwas gedämpfter.

Als ich mich umdrehte, um nachzuschauen, was mich da zu Fall gebracht hatte, fiel mein Blick sogleich auf etwas Weißes, das aus dem Gurkenbeet ragte. Ganz kurz gestattete ich mir die verzweifelte Hoffnung, es möge sich vielleicht um einen kleinen weißen, dreisten Rechen handeln.

Letztendlich siegte jedoch die Vernunft, und ich musste mir

Und dort, am Ende des Armes, von den zart leuchtenden Blättern in ein scheußliches, taufeuchtes Gurkengrün getaucht, war ein Gesicht - und es glich aufs Haar der Fratze des Grünen Mannes aus unseren Sagen und Legenden.

Einem Drang gehorchend, der starker als mein Wille war, ließ ich mich auf alle viere neben meiner Entdeckung nieder: teils aus Ehrfurcht, teils, weil ich das Gesicht näher betrachten wollte.

Als ich wir schon beinahe mit den Nasen zusammenstießen, klappten die Augenlider mit einem Mal auf.

Ich bekam einen solchen Schreck, dass ich mich nicht rühren konnte.

Der Liegende holte röchelnd Luft … und hauchte dann, mit Blubberbläschen vor den Nasenlöchern, ein einziges Wort, bedächtig und ein wenig traurig, mir mitten ins Gesicht:

»Vale«, sagte er.

Ich rümpfte unwillkürlich die Nase, als ich den Anflug eines ganz bestimmten Geruchs wahrnahm - ein Geruch, dessen Bezeichnung mir, wenn auch nur einen Augenblick lang, auf der Zunge lag.

Die Augen, blau wie die Vögel auf unserem chinesischen Porzellan, schauten zu mir auf, als käme ihr Blick aus einer unbestimmten, fernen Vergangenheit - und als läge ganz tief in ihnen so etwas wie eine Erkenntnis.

Dann brachen sie.

Ich würde gerne behaupten, dass ich tief ergriffen war, aber das wäre gelogen. Ich würde gern behaupten, dass mir mein siebter Sinn befahl, schleunigst die Flucht zu ergreifen, aber auch das würde nicht der Wahrheit entsprechen. Stattdessen sah ich fasziniert hin und prägte mir alles ganz genau ein: die krampfartig zuckenden Finger, die kaum erkennbare bronzefarbene,

Und dann diese absolute Stille.

Ich würde gerne behaupten, dass ich mich gefürchtet hätte, aber das stimmt nicht. Ganz im Gegenteil. Es war das mit Abstand Spannendste, was ich je erlebt hatte.