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91.

Die Redlichkeit Gottes. — Ein Gott, der allwissend und allmächtig ist und der nicht einmal dafür sorgt, dass seine Absicht von seinen Geschöpfen verstanden wird, — sollte das ein Gott der Güte sein? Der die zahllosen Zweifel und Bedenken fortbestehen lässt, Jahrtausende lang, als ob sie für das Heil der Menschheit unbedenklich wären, und der doch wieder die entsetzlichsten Folgen bei einem Sich-vergreifen an der Wahrheit in Aussicht stellt? Würde es nicht ein grausamer Gott sein, wenn er die Wahrheit hätte und es ansehen könnte, wie die Menschheit sich jämmerlich um sie quält? — Aber vielleicht ist es doch ein Gott der Güte, — und er konnte sich nur nicht deutlicher ausdrücken! So fehlte es ihm vielleicht an Geist dazu? Oder an Beredtsamkeit? Um so schlimmer! Dann irrte er sich vielleicht auch in dem, was er seine» Wahrheit «nennt, und er ist selber dem» armen betrogenen Teufel «nicht so fern! Muss er dann nicht beinahe Höllenqualen ausstehen, seine Geschöpfe um seiner Erkenntniss willen so, und in alle Ewigkeit fort noch schlimmer, leiden zu sehen und nicht rathen und helfen zu können, ausser wie ein Taubstummer, der allerhand vieldeutige Zeichen macht, wenn seinem Kinde oder Hunde die schrecklichste Gefahr auf dem Nacken sitzt? — Einem derartig schliessenden und bedrängten Gläubigen wäre wahrlich zu verzeihen, wenn ihm das Mitleiden mit dem leidenden Gott näher läge, als das Mitleiden mit den» Nächsten«, — denn es sind nicht mehr seine Nächsten, wenn jener Einsamste, Uranfänglichste auch der Leidendste, Trostbedürftigste von Allen ist. — Alle Religionen zeigen ein Merkmal davon, dass sie einer frühen unreifen Intellectualität der Menschheit ihre Herkunft verdanken, — sie alle nehmen es erstaunlich leicht mit der Verpflichtung, die Wahrheit zu sagen: sie wissen noch Nichts von einer Pflicht Gottes, gegen die Menschheit wahrhaftig und deutlich in der Mittheilung zu sein. — über den» verborgenen Gott «und über die Gründe, sich so verborgen zu halten und immer nur halb mit der Sprache an's Licht zu kommen, ist Niemand beredter gewesen, als Pascal, zum Zeichen, dass er sich nie darüber hat beruhigen können: aber seine Stimme klingt so zuversichtlich, als ob er einmal mit hinter dem Vorhang gesessen hätte. Er hatte die Witterung einer Unmoralität in dem» deus absconditus «und die grösste Scham und Scheu davor, sich diess einzugestehen: und so redete er, wie Einer, der sich fürchtet, so laut als er konnte.

92.

Am Sterbebette des Christenthums. — Die wirklich activen Menschen sind jetzt innerlich ohne Christenthum, und die mässigeren und betrachtsameren Menschen des geistigen Mittelstandes besitzen nur noch ein zurechtgemachtes, nämlich ein wunderlich vereinfachtes Christenthum. Ein Gott, der in seiner Liebe Alles so fügt, wie es uns schliesslich am besten sein wird, ein Gott, der uns unsere Tugend wie unser Glück giebt und nimmt, sodass es im Ganzen immer recht und gut zugeht und kein Grund bleibt, das Leben schwer zu nehmen oder gar zu verklagen, kurz, die Resignation und Bescheidenheit zur Gottheit erhoben, — das ist das Beste und Lebendigste, was vom Christenthum noch übrig geblieben ist. Aber man sollte doch merken, dass damit das Christenthum in einen sanften Moralismus übergetreten ist: nicht sowohl» Gott, Freiheit und Unsterblichkeit «sind übrig geblieben, als Wohlwollen und anständige Gesinnung und der Glaube, dass auch im ganzen All Wohlwollen und anständige Gesinnung herrschen werden: es ist die Euthanasie des Christenthums.

93.

Was ist Wahrheit? — Wer wird sich den Schluss der Gläubigen nicht gefallen lassen, welchen sie gern machen:»die Wissenschaft kann nicht wahr sein, denn sie leugnet Gott. Folglich ist sie nicht aus Gott; folglich ist sie nicht wahr, — denn Gott ist die Wahrheit. «Nicht der Schluss, sondern die Voraussetzung enthält den Fehler: wie, wenn Gott eben nicht die Wahrheit wäre, und eben diess bewiesen würde? wenn er die Eitelkeit, das Machtgelüst, die Ungeduld, der Schrecken, der entzückte und entsetzte Wahn der Menschen wäre?

94.

Heilmittel der Verstimmten. — Schon Paulus meinte, ein Opfer sei nöthig, damit die tiefe Verstimmung Gottes über die Sünde aufgehoben werde: und seitdem haben die Christen nicht aufgehört, ihr Missbehagen über sich selber an einem Opfer auszulassen, — sei diess nun die» Welt «oder die» Geschichte «oder die» Vernunft «oder die Freude oder die friedliche Ruhe anderer Menschen, — irgend etwas Gutes muss für ihre Sünde sterben (wenn auch nur in effigie)!

95.

Die historische Widerlegung als die endgültige. — Ehemals suchte man zu beweisen, dass es keinen Gott gebe, heute zeigt man, wie der Glaube, dass es einen Gott gebe, entstehen konnte und wodurch dieser Glaube seine Schwere und Wichtigkeit erhalten hat: dadurch wird ein Gegenbeweis, dass es keinen Gott gebe, überflüssig. — Wenn man ehemals die vorgebrachten» Beweise vom Dasein Gottes «widerlegt hatte, blieb immer noch der Zweifel, ob nicht noch bessere Beweise aufzufinden seien, als die eben widerlegten: damals verstanden die Atheisten sich nicht darauf, reinen Tisch zu machen.

96.

«In hoc signo vinces.«— So vorgeschritten Europa auch sonst sein mag: in religiösen Dingen hat es noch nicht die freisinnige Naivität der alten Brahmanen erreicht, zum Zeichen, dass in Indien vor vier Jahrtausenden mehr gedacht wurde und mehr Lust am Denken vererbt zu werden pflegte, als jetzt unter uns. Jene Brahmanen nämlich glaubten erstens, dass die Priester mächtiger seien, als die Götter, und zweitens, dass die Bräuche es seien, worin die Macht der Priester begriffen liege: wesshalb ihre Dichter nicht müde wurden, die Bräuche (Gebete, Ceremonien, Opfer, Lieder, Metren) als die eigentlichen Geber alles Guten zu preisen. Wie viel Dichterei und Aberglaube hier auch immer dazwischengelaufen sein mag: die Sätze sind wahr! Einen Schritt weiter: und man warf die Götter bei Seite, — was Europa auch einmal thun muss! Noch einen Schritt weiter: und man hatte auch die Priester und Vermittler nicht mehr nöthig, und der Lehrer der Religion der Selbsterlösung, Buddha, trat auf: — wie ferne ist Europa noch von dieser Stufe der Cultur! Wenn endlich auch alle Bräuche und Sitten vernichtet sind, auf welche die Macht der Götter, der Priester und Erlöser sich stützt, wenn also die Moral im alten Sinne gestorben sein wird: dann kommt — ja was kommt dann? Doch rathen wir nicht herum, sondern sehen wir zunächst zu, dass Europa nachholt, was in Indien, unter dem Volke der Denker, schon vor einigen Jahrtausenden als Gebot des Denkens gethan wurde! Es giebt jetzt vielleicht zehn bis zwanzig Millionen Menschen unter den verschiedenen Völkern Europa's, welche nicht mehr» an Gott glauben«, — ist es zu viel gefordert, dass sie einander ein Zeichen geben? Sobald sie sich derartig erkennen, werden sie sich auch zu erkennen geben, — sie werden sofort eine Macht in Europa sein und, glücklicherweise, eine Macht zwischen den Völkern! Zwischen den Ständen! Zwischen Arm und Reich! Zwischen Befehlenden und Unterworfenen! Zwischen den unruhigsten und den ruhigsten, beruhigendsten Menschen!

Zweites Buch

97.

Man wird moralisch, — nicht weil man moralisch ist! — Die Unterwerfung unter die Moral kann sclavenhaft oder eitel oder eigennützig oder resignirt oder dumpf-schwärmerisch oder gedankenlos oder ein Act der Verzweiflung sein, wie die Unterwerfung unter einen Fürsten: an sich ist sie nichts Moralisches.

98.

Wandel der Moral. — Es giebt ein fortwährendes Umwandeln und Arbeiten an der Moral, — das bewirken die Verbrechen mit glücklichem Ausgange (wozu zum Beispiel alle Neuerungen des moralischen Denkens gehören).