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99.

Worin wir Alle unvernünftig sind. — Wir ziehen immer noch die Folgerungen von Urtheilen, die wir für falsch halten, von Lehren, an die wir nicht mehr glauben, — durch unsere Gefühle.

100.

Vom Traume erwachen. — Edle und weise Menschen haben einmal an die Musik der Sphären geglaubt: edle und weise Menschen glauben noch immer an die» sittliche Bedeutung des Daseins«. Aber eines Tages wird auch diese Sphärenmusik ihrem Ohre nicht mehr vernehmbar sein! Sie erwachen und merken, dass ihr Ohr geträumt hatte.

101.

Bedenklich. — Einen Glauben annehmen, blos weil er Sitte ist, — das heisst doch: unredlich sein, feige sein, faul sein! — Und so wären Unredlichkeit, Feigheit und Faulheit die Voraussetzungen der Sittlichkeit?

102.

Die ältesten moralischen Urtheile. — Wie machen wir es doch bei der Handlung eines Menschen in unsrer Nähe? — Zunächst sehen wir darauf hin, was aus ihr für uns herauskommt, — wir sehen sie nur unter diesem Gesichtspunct. Diese Wirkung nehmen wir als die Absicht der Handlung — und endlich legen wir ihm das Haben solcher Absichten als dauernde Eigenschaft bei und nennen ihn zum Beispiel von nun an» einen schädlichen Menschen«. Dreifache Irrung! Dreifacher uralter Fehlgriff! Vielleicht unsre Erbschaft von den Thieren und ihrer Urtheilskraft her! Ist nicht der Ursprung aller Moral in den abscheulichen kleinen Schlüssen zu suchen:»was mir schadet, das ist etwas Böses (an sich Schädigendes); was mir nützt, das ist etwas Gutes (an sich Wohlthuendes und Nutzenbringendes); was mir einmal oder einigemale schadet, das ist das Feindliche an sich und in sich; was mir einmal oder einigemale nützt, das ist das Freundliche an sich und in sich. «O pudenda origo! Heisst das nicht: die erbärmliche, gelegentliche, oft zufällige Relation eines Anderen zu uns als sein Wesen und Wesentlichstes auszudichten, und zu behaupten, er sei gegen alle Welt und gegen sich selber eben nur solcher Relationen fähig, dergleichen wir ein- oder einigemal erlebt haben? Und sitzt hinter dieser wahren Narrheit nicht noch der unbescheidenste aller Hintergedanken, dass wir selber das Princip des Guten sein müssen, weil sich Gutes und Böses nach uns bemisst? —

103.

Es giebt zwei Arten von Leugnern der Sittlichkeit. — »Die Sittlichkeit leugnen«— das kann einmal heissen: leugnen, dass die sittlichen Motive, welche die Menschen angeben, wirklich sie zu ihren Handlungen getrieben haben, — es ist also die Behauptung, dass die Sittlichkeit in Worten bestehe und zur groben und feinen Betrügerei (namentlich Selbstbetrügerei) der Menschen gehöre, und vielleicht gerade bei den durch Tugend Berühmtesten am meisten. Sodann kann es heissen: leugnen, dass die sittlichen Urtheile auf Wahrheiten beruhen. Hier wird zugegeben, dass sie Motive des Handelns wirklich sind, dass aber auf diese Weise Irrthümer, als Grund alles sittlichen Urtheilens, die Menschen zu ihren moralischen Handlungen treiben. Diess ist mein Gesichtspunct: doch möchte ich am wenigsten verkennen, dass in sehr vielen Fällen ein feines Misstrauen nach Art des ersten Gesichtspunctes, also im Geiste des La Rochefoucauld, auch im Rechte und jedenfalls vom höchsten allgemeinen Nutzen ist. — Ich leugne also die Sittlichkeit wie ich die Alchymie leugne, das heisst, ich leugne ihre Voraussetzungen: nicht aber, dass es Alchymisten gegeben hat, welche an diese Voraussetzungen glaubten und auf sie hin handelten. — Ich leugne auch die Unsittlichkeit: nicht, dass zahllose Menschen sich unsittlich fühlen, sondern dass es einen Grund in der Wahrheit giebt, sich so zu fühlen. Ich leugne nicht, wie sich von selber versteht — vorausgesetzt, dass ich kein Narr bin — , dass viele Handlungen, welche unsittlich heissen, zu vermeiden und zu bekämpfen sind; ebenfalls, dass viele, die sittlich heissen, zu thun und zu fördern sind, — aber ich meine: das Eine wie das Andere aus anderen Gründen, als bisher. Wir haben umzulernen, — um endlich, vielleicht sehr spät, noch mehr zu erreichen: um zu fühlen.

104.

Unsere Werthschätzungen. — Alle Handlungen gehen auf Werthschätzungen zurück, alle Werthschätzungen sind entweder eigene oder angenommene, — letztere bei Weitem die meisten. Warum nehmen wir sie an? Aus Furcht, — das heisst: wir halten es für rathsamer, uns so zu stellen, als ob sie auch die unsrigen wären — und gewöhnen uns an diese Verstellung, sodass sie zuletzt unsere Natur ist. Eigene Werthschätzung: das will besagen, eine Sache in Bezug darauf messen, wie weit sie gerade uns und niemandem Anderen Lust oder Unlust macht, — etwas äusserst Seltenes! — Aber wenigstens muss doch unsre Werthschätzung des Anderen, in der das Motiv dafür liegt, dass wir uns in den meisten Fällen seiner Werthschätzung bedienen, von uns ausgehen, unsere eigene Bestimmung sein? Ja, aber als Kinder machen wir sie, und lernen selten wieder um; wir sind meist zeitlebens die Narren kindlicher angewöhnter Urtheile, in der Art, wie wir über unsre Nächsten (deren Geist, Rang, Moralität, Vorbildlichkeit, Verwerflichkeit) urtheilen und es nöthig finden, vor ihren Werthschätzungen zu huldigen.

105.

Der ScheinEgoismus. — Die Allermeisten, was sie auch immer von ihrem» Egoismus «denken und sagen mögen, thun trotzdem ihr Lebenlang Nichts für ihr ego, sondern nur für das Phantom von ego, welches sich in den Köpfen ihrer Umgebung über sie gebildet und sich ihnen mitgetheilt hat, — in Folge dessen leben sie Alle zusammen in einem Nebel von unpersönlichen, halbpersönlichen Meinungen und willkürlichen, gleichsam dichterischen Werthschätzungen, Einer immer im Kopfe des Andern, und dieser Kopf wieder in anderen Köpfen: eine wunderliche Welt der Phantasmen, welche sich dabei einen so nüchternen Anschein zu geben weiss! Dieser Nebel von Meinungen und Gewöhnungen wächst und lebt fast unabhängig von den Menschen, die er einhüllt; in ihm liegt die ungeheure Wirkung allgemeiner Urtheile über» den Menschen«— alle diese sich selber unbekannten Menschen glauben an das blutlose Abstractum» Mensch«, das heisst, an eine Fiction; und jede Veränderung, die mit diesem Abstractum vorgenommen wird, durch die Urtheile einzelner Mächtiger (wie Fürsten und Philosophen), wirkt ausserordentlich und in unvernünftigem Maasse auf die grosse Mehrzahl, — Alles aus dem Grunde, dass jeder Einzelne in dieser Mehrzahl kein wirkliches, ihm zugängliches und von ihm ergründetes ego der allgemeinen blassen Fiction entgegenzustellen und sie damit zu vernichten vermag.

106.

Gegen die Definitionen der moralischen Ziele. — Man hört allerwärts jetzt das Ziel der Moral ungefähr so bestimmt: es sei die Erhaltung und Förderung der Menschheit; aber das heisst eine Formel haben wollen und weiter Nichts. Erhaltung, worin? muss man sofort dagegen fragen, Förderung wohin? Ist nicht gerade das Wesentliche, die Antwort auf dieses Worin? und Wohin? in der Formel ausgelassen? Was lässt sich also mit ihr für die Pflichtenlehre festsetzen, was nicht Schon, stillschweigend und gedankenlos, jetzt als festgesetzt gilt! Kann man aus ihr genügend absehen, ob man eine möglichst lange Existenz der Menschheit in's Auge zu fassen habe? Oder die möglichste Entthierung der Menschheit? Wie verschieden würden in beiden Fällen die Mittel, das heisst die praktische Moral, sein müssen! Gesetzt, man wollte der Menschheit die höchste ihr mögliche Vernünftigkeit geben: diess hiesse gewiss nicht ihr die höchste ihr mögliche Dauer verbürgen! Oder gesetzt, man dächte an ihr» höchstes Glück «als das Wohin und Worin: meint man dann den höchsten Grad, den allmählich einzelne Menschen erreichen könnten? Oder eine, übrigens gar nicht zu berechnende letztens erreichbare Durchschnitts-Glückseligkeit Aller? Und warum wäre die Moralität gerade der Weg dahin? Ist nicht durch sie, im Grossen gesehen, eine solche Fülle von Unlust-Quellen aufgethan worden, dass man eher urtheilen könnte, mit jeder Verfeinerung der Sittlichkeit sei der Mensch bisher mit sich, mit seinem Nächsten und mit seinem Loose des Daseins unzufriedener geworden? Ist nicht der bisher moralischste Mensch des Glaubens gewesen, der einzig berechtigte Zustand des Menschen im Angesichte der Moral sei die tiefste Unseligkeit?