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547.

Die Tyrannen des Geistes. — Der Gang der Wissenschaft wird jetzt nicht mehr durch die zufällige Thatsache, dass der Mensch ungefähr siebenzig Jahre alt wird, gekreuzt, wie es allzulange der Fall war. Ehemals wollte Einer während dieses Zeitraumes an's Ende der Erkenntnis kommen und nach diesem allgemeinen Gelüste schätzte man die Methoden der Erkenntniss ab. Die kleinen einzelnen Fragen und Versuche galten als verächtlich, man wollte den kürzesten Weg, man glaubte, weil Alles in der Welt auf den Menschen hin eingerichtet schien, dass auch die Erkennbarkeit der Dinge auf ein menschliches Zeitmaass eingerichtet sei. Alles mit Einem Schlage, mit Einem Worte zu lösen, — das war der geheime Wunsch: unter dem Bilde des gordischen Knotens oder unter dem des Eies des Columbus dachte man sich die Aufgabe; man zweifelte nicht, dass es möglich sei, auch in der Erkenntniss nach Art des Alexander oder des Columbus zum Ziele zu kommen und alle Fragen mit Einer Antwort zu erledigen.»Ein Räthsel ist zu lösen«: so trat das Lebensziel vor das Auge des Philosophen; zunächst war das Räthsel zu finden und das Problem der Welt in die einfachste Räthselform zusammen zudrängen. Der gränzenlose Ehrgeiz und Jubel, der» Enträthsler der Welt «zu sein, machte die Träume des Denkers aus: Nichts schien ihm der Mühe werth, wenn es nicht das Mittel war, Alles für ihn zu Ende zu bringen! So war Philosophie eine Art höchsten Ringens um die Tyrannenherrschaft des Geistes, — dass eine solche irgend einem Sehr-Glücklichen, Feinen, Erfindsamen, Kühnen, Gewaltigen vorbehalten und aufgespart sei, — einem Einzigen! — daran zweifelte Keiner, und Mehrere haben gewähnt, zuletzt noch Schopenhauer, dieser Einzige zu sein. — Daraus ergiebt sich, dass im Grossen und Ganzen die Wissenschaft bisher durch die moralische Beschränktheit ihrer Jünger zurückgeblieben ist und dass sie mit einer höheren und grossmüthigeren Grundempfindung fürderhin getrieben werden muss.»Was liegt an mir!«— steht über der Thür des künftigen Denkers.

548.

Der Sieg über die Kraft. — Erwägt man, was bisher Alles als»übermenschlicher Geist«, als» Genie «verehrt worden ist, so kommt man zu dem traurigen Schlusse, dass im Ganzen die Intellectualität der Menschheit doch etwas sehr Niedriges und Armseliges gewesen sein muss: so wenig Geist gehörte bisher dazu, um sich gleich erheblich über sie hinaus zu fühlen! Ach, um den wohlfeilen Ruhm des» Genie's«! Wie schnell ist sein Thron errichtet, seine Anbetung zum Brauch geworden! Immer noch liegt man vor der Kraft auf den Knieen — nach alter Sclaven-Gewohnheit — und doch ist, wenn der Grad von Verehrungswürdigkeit festgestellt werden soll, nur der Grad der Vernunft in der Kraft entscheidend: man muss messen, inwieweit gerade die Kraft durch etwas Höheres überwunden worden ist und als ihr Werkzeug und Mittel nunmehr in Diensten steht! Aber für ein solches Messen giebt es noch gar zu wenig Augen, ja zumeist wird noch das Messen des Genie's für einen Frevel gehalten. Und so geht vielleicht das Schönste immer noch im Dunkel vor sich und versinkt, kaum geboren, in ewige Nacht, — nämlich das Schauspiel jener Kraft, welche ein Genie nicht auf Werke, sondern auf sich als Werk, verwendet, das heisst auf seine eigene Bändigung, auf Reinigung seiner Phantasie, auf Ordnung und Auswahl im Zuströmen von Aufgaben und Einfällen. Noch immer ist der grosse Mensch gerade in dem Grössten, was Verehrung erheischt, unsichtbar wie ein zu fernes Gestirn: sein Sieg über die Kraft bleibt ohne Augen und folglich auch ohne Lied und Sänger. Noch immer ist die Rangordnung der Grösse für alle vergangene Menschheit noch nicht festgesetzt.

549.

«Selbstflucht«. — Jene Menschen der intellectuellen Krämpfe, welche gegen sich selber ungeduldig und verfinstert sind, wie Byron oder Alfred de Musset, und in Allem, was sie thun, durchgehenden Pferden gleichen, ja, die aus ihrem eigenen Schaffen nur eine kurze, die Adern fast sprengende Lust und Gluth und dann eine um so winterlichere Öde und Vergrämtheit davontragen, wie sollen sie es in sich aushalten! Sie dürsten nach einem Aufgehen in einem» Aussersich «; ist man mit einem solchen Durste ein Christ, so zielt man nach dem Aufgehen in Gott, nach dem» Ganz-eins-mit-ihm-werden«; ist man Shakespeare, so genügt einem erst das Aufgehen in Bildern des leidenschaftlichsten Lebens; ist man Byron, so dürstet man nach Thaten, weil diese noch mehr uns von uns abziehen, als Gedanken, Gefühle und Werke. Und so wäre vielleicht doch der Thatendrang im Grunde Selbstflucht? — würde Pascal uns fragen. Und in der That! Bei den höchsten Exemplaren des Thatendranges möchte der Satz sich beweisen lassen: man erwäge doch, mit dem Wissen und den Erfahrungen eines Irrenarztes, wie billig, — dass Vier von den Thatendurstigsten aller Zeiten Epileptiker gewesen sind (nämlich Alexander, Cäsar, Muhammed und Napoleon)- so wie auch Byron diesem Leiden unterworfen war.

550.

Erkenntniss und Schönheit. — Wenn die Menschen, so wie sie immer noch thun, ihre Verehrung und ihr Glücksgefühl für die Werke der Einbildung und der Verstellung gleichsam aufsparen, so darf es nicht Wunder nehmen, wenn sie sich beim Gegensatz der Einbildung und Verstellung kalt und unlustig finden. Das Entzücken, welches schon beim kleinsten sicheren endgültigen Schritt und Fortschritt der Einsicht entsteht und welches aus der jetzigen Art der Wissenschaft so reichlich und schon für so Viele herausströmt, — dieses Entzücken wird einstweilen von allen Denen nicht geglaubt, welche sich daran gewöhnt haben, immer nur beim Verlassen der Wirklichkeit, beim Sprung in die Tiefen des Scheins entzückt zu werden. Diese meinen, die Wirklichkeit sei hässlich: aber daran denken sie nicht, dass die Erkenntniss auch der hässlichsten Wirklichkeit schön ist, ebenso dass wer oft und viel erkennt, zuletzt sehr ferne davon ist, das grosse Ganze der Wirklichkeit, deren Entdeckung ihm immer Glück gab, hässlich zu finden. Giebt es denn etwas» an sich Schönes«? Das Glück der Erkennenden mehrt die Schönheit der Welt und macht Alles, was da ist, sonniger; die Erkenntniss legt ihre Schönheit nicht nur um die Dinge, sondern, auf die Dauer, in die Dinge; — möge die zukünftige Menschheit für diesen Satz ihr Zeugniss abgeben! Inzwischen gedenken wir einer alten Erfahrung: zwei so grundverschiedene Menschen, wie Plato und Aristoteles, kamen in dem überein, was das höchste Glück ausmache, nicht nur für sie oder für Menschen, sondern an sich, selbst für Götter der letzten Seligkeiten: sie fanden es im Erkennen, in der Thätigkeit eines wohlgeübten findenden und erfindenden Verstandes (nicht etwa in der» Intuition«, wie die deutschen Halb- und Ganztheologen, nicht in der Vision, wie die Mystiker, und ebenfalls nicht im Schaffen, wie alle Praktiker). Ähnlich urtheilten Descartes und Spinoza: wie müssen sie Alle die Erkenntniss genossen haben! Und welche Gefahr für ihre Redlichkeit, dadurch zu Lobrednern der Dinge zu werden! —