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551.

Von zukünftigen Tugenden. — Wie kommt es, dass, je begreiflicher die Welt geworden ist, um so mehr die Feierlichkeit jeder Art abgenommen hat? Ist es, dass die Furcht so sehr das Grundelement jener Ehrfurcht war, welche uns bei allem Unbekannten, Geheimnissvollen überfiel und uns vor dem Unbegreiflichen niedersinken und um Gnade bitten lehrte? Und sollte die Welt dadurch, dass wir weniger furchtsam geworden sind, nicht auch an Reiz für uns verloren haben? Sollte mit unserer Furchtsamkeit nicht auch unsre eigene Würde und Feierlichkeit, unsre eigene Furchtbarkeit, geringer geworden sein? Vielleicht, dass wir die Welt und uns selber geringer achten, seit wir muthiger über sie und uns denken? Vielleicht, dass es eine Zukunft giebt, wo dieser Muth des Denkens so angewachsen sein wird, dass er als der äusserste Hochmuth sich über den Menschen und Dingen fühlt, — wo der Weise als der am meisten Muthige sich selber und das Dasein am meisten unter sich sieht? — Diese Gattung des Muthes, welche nicht ferne einer ausschweifenden Grossmuth ist, fehlte bisher der Menschheit. — Oh, wollten doch die Dichter wieder werden, was sie einstmals gewesen sein sollen: — Seher, die uns Etwas von dem Möglichen erzählen! Jetzt, da ihnen das Wirkliche und das Vergangene immer mehr aus den Händen genommen wird und werden muss, — denn die Zeit der harmlosen Falschmünzerei ist zu Ende! Wollten sie uns von den zukünftigen Tugenden Etwas vorausempfinden lassen! Oder von Tugenden, die nie auf Erden sein werden, obschon sie irgendwo in der Welt sein könnten, — von purpurnglühenden Sternbildern und ganzen Milchstrassen des Schönen! Wo seid ihr, ihr Astronomen des Ideals?

552.

Die idealische Selbstsucht. — Giebt es einen weihevolleren Zustand, als den der Schwangerschaft? Alles, was man thut, in dem stillen Glauben thun, es müsse irgendwie dem Werdenden in uns zu Gute kommen! Es müsse seinen geheimnissvollen Werth, an den wir mit Entzücken denken, erhöhen! Da geht man Vielem aus dem Wege, ohne hart sich zwingen zu müssen! Da unterdrückt man ein heftiges Wort, man giebt versöhnlich die Hand: aus dem Mildesten und Besten soll das Kind hervorwachsen. Es schaudert uns vor unsrer Schärfe und Plötzlichkeit: wie wenn sie dem geliebtesten Unbekannten einen Tropfen Unheil in den Becher seines Lebens gösse! Alles ist verschleiert, ahnungsvoll, man weiss von Nichts, wie es zugeht, man wartet ab und sucht bereit zu sein. Dabei waltet ein reines und reinigendes Gefühl tiefer Unverantwortlichkeit in uns, fast wie es ein Zuschauer vor dem geschlossenen Vorhang hat, — es wächst, es tritt an den Tag: wir haben Nichts in der Hand, zu bestimmen, weder seinen Werth, noch seine Stunde. Einzig auf jeden mittelbaren segnenden und wehrenden Einfluss sind wir angewiesen.»Es ist etwas Grösseres, das hier wächst, als wir sind «ist unsere geheimste Hoffnung: ihm legen wir Alles zurecht, dass es gedeihlich zur Welt komme: nicht nur alles Nützliche, sondern auch die Herzlichkeiten und Kränze unserer Seele. — In dieser Weihe soll man leben! Kann man leben! Und sei das Erwartete ein Gedanke, eine That, — wir haben zu allem wesentlichen Vollbringen kein anderes Verhältniss, als das der Schwangerschaft und sollten das anmaassliche Reden von» Wollen «und» Schaffen «in den Wind blasen! Diess ist die rechte idealische Selbstsucht: immer zu sorgen und zu wachen und die Seele still zu halten, dass unsere Fruchtbarkeit schön zu Ende gehe! So, in dieser mittelbaren Art sorgen und wachen wir für den Nutzen Aller; und die Stimmung, in der wir leben, diese stolze und milde Stimmung, ist ein Öl, welches sich weit um uns her auch auf die unruhigen Seelen ausbreitet. — Aber wunderlich sind die Schwangeren! Seien wir also auch wunderlich und verargen wir es den Anderen nicht, wenn sie es sein müssen! Und selbst, wo diess in's Schlimme und Gefährliche sich verläuft: bleiben wir in der Ehrfurcht vor dem Werdenden nicht hinter der weltlichen Gerechtigkeit zurück, welche dem Richter und dem Henker nicht erlaubt, eine Schwangere zu berühren!

553.

Auf Umwegen. — Wohin will diese ganze Philosophie mit allen ihren Umwegen? Thut sie mehr, als einen stäten und starken Trieb gleichsam in Vernunft zu übersetzen, einen Trieb nach milder Sonne, heller und bewegter Luft, südlichen Pflanzen, Meeres-Athem, flüchtiger Fleisch-, Eier- und Früchtenahrung, heissem Wasser zum Getränke, tagelangen stillen Wanderungen, wenigem Sprechen, seltenem und vorsichtigem Lesen, einsamem Wohnen, reinlichen, schlichten und fast soldatischen Gewohnheiten, kurz nach allen Dingen, die gerade mir am besten schmecken, gerade mir am zuträglichsten sind? Eine Philosophie, welche im Grunde der Instinct für eine persönliche Diät ist? Ein Instinct, welcher nach meiner Luft, meiner Höhe, meiner Witterung, meiner Art Gesundheit durch den Umweg meines Kopfes sucht? Es giebt viele andere und gewiss auch viele höhere Erhabenheiten der Philosophie, und nicht nur solche, welche düsterer und anspruchsvoller sind, als die meinen, — vielleicht sind auch sie insgesammt nichts Anderes, als intellectuelle Umwege derartig persönlicher Triebe? — Inzwischen sehe ich mit einem neuen Auge auf das heimliche und einsame Schwärmen eines Schmetterlings, hoch an den Felsenufern des See's, wo viele gute Pflanzen wachsen: er fliegt umher, unbekümmert darum, dass er nur das Leben Eines Tages noch lebt, und dass die Nacht zu kalt für seine geflügelte Gebrechlichkeit sein wird. Es würde sich wohl auch für ihn eine Philosophie finden lassen: ob es schon nicht die meine sein mag. —

554.

Vorschritt. — Wenn man den Fortschritt rühmt, so rühmt man damit nur die Bewegung und Die, welche uns nicht auf der Stelle stehen bleiben lassen, — und damit ist gewiss unter Umständen viel gethan, insonderheit, wenn man unter Ägyptern lebt. Im beweglichen Europa aber, wo sich die Bewegung, wie man sagt,»von selber versteht«— ach, wenn wir nur auch Etwas davon verstünden! — lobe ich mir den Vorschritt und die Vorschreitenden, das heisst Die, welche sich selber immer wieder zurücklassen und die gar nicht daran denken, ob ihnen Jemand sonst nachkommt.»Wo ich Halt mache, da finde ich mich allein: wozu sollte ich Halt machen! Die Wüste ist noch gross!«— so empfindet ein solcher Vorschreitender.

555.

Die geringsten genügen schon. — Man soll den Ereignissen aus dem Wege gehen, wenn man weiss, dass die geringsten sich schon stark genug auf uns einzeichnen, — und diesen entgeht man doch nicht. — Der Denker muss einen ungefähren Kanon aller der Dinge in sich haben, welche er überhaupt noch erleben will.

556.

Die guten Vier. — Redlich gegen uns und was sonst uns Freund ist; tapfer gegen den Feind; grossmüthig gegen den Besiegten: höflich — immer: so wollen uns die vier Cardinaltugenden.

557.

Auf einen Feind los. — Wie gut klingen schlechte Musik und schlechte Gründe, wenn man auf einen Feind los marschirt!

558.

Aber auch nicht seine Tugenden verbergen! — Ich liebe die Menschen, welche durchsichtiges Wasser sind und die, mit Pope zu reden, auch» die Unreinlichkeiten auf dem Grunde ihres Stromes sehen lassen. «Selbst für sie giebt es aber noch eine Eitelkeit, freilich von seltener und sublimirter Art: Einige von ihnen wollen, dass man eben nur die Unreinlichkeiten sehe und die Durchsichtigkeit des Wassers, die diess möglich macht, für Nichts achte. Kein Geringerer, als Gotama Buddha, hat die Eitelkeit dieser Wenigen erdacht, in der Formeclass="underline" »lasset eure Sünden sehen vor den Leuten und verberget eure Tugenden!«Diess heisst aber der Welt kein gutes Schauspiel geben, — es ist eine Sünde wider den Geschmack.