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«Sioux«, sagte Conor.

«Comanchen«, sagte Wilbur.

«Irokesen.«

«Apachen.«

Die Wolldecke drückte das hohe Gras, in dem sie lag, auf den Boden. Erst dachte Wilbur, ein Mensch liege da am Fuß des sanft ansteigenden Hügels, und blieb stehen. Vielleicht war der Hund tollwütig und hatte einen Wanderer angefallen. Conor ging auf die Decke zu, ohne seinen Schritt zu verlangsamen.

Wilbur ging hinter seinem Freund her, beschämt über die eigene Angst. Manchmal war er wütend auf Conor, der sich vor nichts zu fürchten schien, nicht einmal vor Mr. Taggart, dem neuen Turnlehrer, der die Jungen waghalsige Sprünge über ein Gerät machen ließ, das sich Pferd nannte. Bei diesen Übungen war Wilbur entweder schon während des Anlaufs gestrauchelt oder hatte sich beim Aufprall auf den Lederbock so viele blaue Flecken geholt, dass Mr. Taggart ihn stattdessen Runden in der Halle drehen ließ.

«Die ist von einem Schiff«, sagte Conor und breitete die feuchte Decke so aus, dass man die Buchstaben erkennen konnte, die sich in einem dunklen Streifen über die Längsseite zogen. Eine Ecke fehlte, das Stück, das der Hund im Maul getragen hatte.

«MS Pride of Durban«, las Wilbur.

Conor sah sich um. Die Kuppe des Hügels war mit hüfthohem Gras bewachsen, ein Gürtel aus Stechginsterbüschen und Brombeersträuchern legte sich um seine Flanke, und die dem Meer zugewandte Seite war kahl, ein Abbruch aus nackter Erde, den Steine säumten. Conor stellte sich auf den höchsten Punkt und sah zur Bucht hinunter.

«Nichts!«rief er, blieb noch eine Weile stehen und kam dann herunter.

«Südafrika«, sagte Wilbur, obwohl ihm klar war, dass Conor das wusste.

«Die haben da ’nen Zaun im Meer, damit die Haie nicht die Leute fressen«, sagte Conor. Seit er mit Wilbur befreundet war, las er Unmengen von Büchern, oft noch spätnachts und im Schein einer Taschenlampe, damit seine Eltern nichts merkten. Dabei achtete er auf Titel, die Abenteuer versprachen, Nervenkitzel, noch besser handfestes Gruseln. Kopfjäger am Ende der Welt, Tödliche Safari, Flucht aus dem Reich der Kannibalen hießen die Werke, die ihm Schauergeschichten aus einem Leben boten, das für einmal nicht das eigene war. Er hob die Decke auf und schüttelte sie. Der Stoff roch modrig, Gras und Dreck klebten daran.

Wilbur sah das Loch erst, als in einem Busch davor ein weißer Falter die Flügel ausbreitete und sich von der Brise, die aufgekommen war, hochheben und davontragen ließ, ein blinkender Punkt, der vor einer Wolke verschwand. Grashalme schraffierten die Öffnung, vor der frische Erdklumpen und gelbe Stechginsterblüten lagen. Er stapfte die Steigung hoch und ging in die Knie, um durch die Äste eines Busches ins Dunkel zu blicken. Nie im Leben hätte er sich getraut, die Hand auszustrecken, die Zweige zu trennen und hineinzufassen. Das überließ er Conor.

«Eine Höhle«, sagte Wilbur. In der Erde sah er etwas, das er als Pfotenabdruck deutete.

Conor ließ die Decke fallen und stieg zu Wilbur hoch. Beide starrten in das Loch. Ein Flugzeug summte im Himmel, eine Fliege hinter Milchglas.

«Ein Dachsbau«, sagte Conor leise, als wolle er den Bewohner der Höhle nicht aufschrecken. Während Wilbur zurückwich, ging Conor näher, brach einen Ast entzwei und tastete mit der rechten Hand hinein. Er wünschte, er hätte seine Taschenlampe dabeigehabt, als er den Kopf in die Öffnung schob und ihn Dunkelheit umgab. Zu Wilburs Entsetzen kroch Conor in den Bau und war bald so weit darin verschwunden, dass nicht einmal mehr seine Schuhsohlen herausschauten.

«Ich glaube, Orla hat gerufen«, sagte Wilbur, obwohl er nichts gehört hatte. Er stand da, bereit, jederzeit davonzurennen, sollte Conors Schrei aus dem Loch hallen. Mit der Tatsache, ein Feigling zu sein, hatte er sich ebenso abgefunden wie damit, nicht richtig zu wachsen oder keine Eltern zu haben. Er beruhigte sein schlechtes Gewissen, indem er sich einredete, im Notfall nur davonzulaufen, um Hilfe zu holen.

«Da ist was!«rief Conor aus der Finsternis, dann ächzte er.

Wilbur ging ein paar Schritte zurück, seine Knie wurden weich. Er verwünschte den Hund, der die Decke aus dem Loch gezerrt hatte, den Falter, der vor der Höhle aufgeflattert war, und sich selber, weil er seine Entdeckung nicht für sich behalten hatte. Über dem Meer hob ein Wind an und strich durch das Gras. Wilbur sah auf seine Uhr, um sich von der Verlässlichkeit der Zeit trösten zu lassen, aber diesmal funktionierte es nicht. An einem Hang wuchsen wilde Margeriten, Orlas Lieblingsblumen, und Wilbur nahm sich vor, sie später für seine Großmutter zu pflücken.

Conors Füße erschienen, die Beine, der Oberkörper, dann die Arme und schließlich die Hände, die einen Griff umfassten und eine Holzkiste ins Freie schleiften. Conor keuchte vor Anstrengung und Aufregung. Wilbur setzte sich ins Gras.

Conor öffnete die Kiste, deren Holz die Jahre nahezu schadlos überstanden hatte. Er hob die Stoßzähne daraus hervor und gab einen davon Wilbur, der das geschwungene Horn aus Elfenbein ungläubig betrachtete. Das Messing war fleckig geworden, aber das Fernrohr ließ sich noch öffnen, und nachdem beide hindurchgesehen hatten, nahm Conor das Taschenmesser in die Hand und ließ eine Klinge aufschnappen. Wilbur fasste es vorsichtig an, obwohl Orla ihm verboten hatte, mit Messern zu hantieren. Im Boden der Kiste war ein Loch, und die Patronen in den Schachteln, die sich in Conors Händen aufzulösen begannen, fühlten sich kalt an.

Wilbur ahnte, was sie noch finden würden, und er wusste, dass es zu spät war, dass sie den Deckel nicht zuklappen, die Kiste ins Loch zurückschieben und weggehen konnten. Er schloss die Augen und dachte an die Filme, die er gesehen hatte, und daran, dass die erschossenen Schauspieler nicht wirklich tot waren, weil in den Waffen keine richtige Munition und das Blut rote Farbe war. Und er dachte an die Zeitungsmeldungen, die er heimlich gelesen hatte, und in denen von Mord und Totschlag die Rede war, an die Bilder von Menschen, die richtig umgebracht worden waren und nicht mehr aufstehen, sich den Staub von den Kleidern wischen und weiterleben würden.

Er öffnete die Augen. Conor hatte das fettige Tuch auseinandergefaltet und starrte auf den Revolver, der darin lag.

Als Orla rief, zuckten Wilbur und Conor zusammen. Die beiden saßen auf dem Hügel neben dem Haus und dachten nach. Sie waren sich einig, niemandem etwas von der Kiste und deren Inhalt zu erzählen, und heimlich wog jeder für sich ab, ob diese Entscheidung richtig war. Natürlich hatten sie auch darüber gerätselt, wem die Kiste gehörte und wer sie im Dachsbau versteckt haben mochte, hatten angefangen zu phantasieren und sich gegenseitig mit Geschichten über Piraten, Spione, Bankräuber und desertierte Soldaten überboten. Conor hatte den Revolver mit beiden Händen festgehalten, hatte die Trommel ausgeschwenkt, durch die leeren Patronenkammern hindurchgesehen und den Abzugshahn gespannt, hatte die Trommel sich drehen lassen und zurückgeklappt, hatte mit dem Lauf in den Himmel gezielt und abgedrückt und dabei den Knall eines Schusses nachgeahmt.

Dann hatte er die Waffe Wilbur gegeben, der die Verzierungen im Metall und die Maserung des Holzes betrachtet und vorsichtig in den Lauf gespäht und sich gefragt hatte, ob daraus jemals eine Kugel abgefeuert worden war, um einen Menschen zu töten. Er hatte Conor diese Frage gestellt und ihm den Revolver zurückgegeben. Conor hatte kurz nachgedacht, mit den Schultern gezuckt, die Waffe sorgfältig in das Tuch und zusätzlich in die Wolldecke gepackt und in die Kiste gelegt. Weil sie nicht wussten, ob der Unbekannte noch lebte und ob er irgendwann kommen und sie holen würde, hatten sie die Kiste in die Höhle zurückgeschoben und den Eingang mit Erdklumpen und Grasbüscheln verstopft.

Orla rief ein zweites Mal, und sie gingen zum Haus, aßen in der Küche warmen Früchtekuchen, tranken Tee und hörten Radio. Danach schlug Orla vor, den Rest des Sonntagnachmittags damit zu verbringen, die seltsamste Baustelle in der ganzen Gegend zu besichtigen.