Aislin sah den Revolver, begriff erst nicht und starrte Conor an. Dann entfuhr ihr ein Schrei, höher als das wütende Singen des Sägeblatts, das sich durch einen Baumstamm fraß, sie taumelte auf ihren Sohn zu, und wie in völliger Dunkelheit streckte sie die Hände nach ihm aus. Conor hielt den Griff mit beiden Händen fest und hob die Arme, zielte mit dem Lauf auf seinen Vater. Als Sean sich umdrehte, sah Conor ihm ins Gesicht und drückte ab.
Die Stille nach dem Knall war ein Vakuum, das jedes andere Geräusch schluckte, ein schwarzes Loch, in dem eine ganze Welt verschwand. Conor hörte nichts mehr, nicht den Schrei seiner Mutter, nicht Colms Ruf und nicht das Trampeln des Pferdes, das über den Hof zur Straße galoppierte, und auch nicht den langen, seufzenden Atemzug seines Vaters, als er auf die Erde fiel.
Orla war zu Hause und bei Colm gewesen und fuhr jetzt in den Ort. Colm hatte ihr gesagt, dass er mit Wilbur den Markt besuchen würde, und sie nahm an, dass die beiden vor Dempsey’s Pub in der Abendsonne saßen und Limonade tranken. Sie konnte es kaum erwarten, Wilbur zu sehen und ihm die Überraschung zu präsentieren. Während sie an der Küste entlangfuhr, sang sie laut den Refrain eines Liedes mit, das sie am Morgen zum ersten Mal gehört hatte. Das Licht über den Hügeln wurde schwach, als ob es von den Wolken aufgesaugt würde wie Jod von Wattebäuschen. Böen kraulten grob das Gras auf den Feldern und fuhren in Baumkronen, die sich blähten. Das Meer war unruhig und von einer Helligkeit, als sei die Oberfläche ein Schwarm aus Fischen, die das letzte Licht auf ihren Rücken trugen. Weit vorne berührte das Tintenblau die Erde, dort regnete es schon.
Orla sah das Pferd nicht, das vor ihren Wagen rannte. Vielleicht hätte sie sich an sein weißes Fell mit den braunen Flecken erinnert, an die helle Mähne, die im Wind flatterte, an die Bewegung des Körpers, die einfror wie manchmal das Bild auf der Leinwand im Dubliner Kino, bevor endlich ein neuer Projektor angeschafft worden war. Wahrscheinlich wäre ihr der Refrain des Liedes, das sie in der Sekunde des Zusammenpralls gesungen hatte, nie mehr aus dem Kopf gegangen, eine endlos kreisende Hymne auf die Willkür des Schicksals, den Zynismus des Zufalls.
Das Autoradio lief noch, als Conor McGonigle mit seinem fünfundzwanzig Jahre alten Lieferwagen an der Unfallstelle hielt. Als junger Bursche war er im Krieg gewesen, hatte mit Deutschland gegen die Engländer gekämpft, war verwundet worden und erst mit dreißig aus amerikanischer Gefangenschaft freigekommen. Keinen einzigen Engländer hatte er getötet, dafür italienische Partisanen, gegen die er nichts hatte. Als er zum ersten Mal tote Frauen gesehen hatte, war er desertiert. Jetzt stand er vor dem himmelblauen Auto und zwang sich, nicht wegzurennen wie damals. Es kostete ihn seine ganze Überwindung, Orlas blutigen Arm zu berühren, um ihren Puls zu fühlen, der unter seinen Fingern schwächer wurde und schließlich erlosch. Orlas Oberkörper lag auf der Kühlerhaube des Nissan, ihre Beine verschwanden im Wagen. In blutigen Strähnen floss ihr Haar vom Kopf, kringelte sich an den Spitzen auf dem warmen Blech. Glassplitter glitzerten im Scheinwerferlicht von McGonigles Lieferwagen. Das Pferd lebte, sein Bauch hob und senkte sich, es schnaubte beim Atmen. Immer wieder warf es den Kopf herum und sah mit aufgerissenen Augen den alten Mann an. Es lag in einer Lache aus schwarzem Blut, das nicht trocknete, weil ständig neues aus einer unsichtbaren Wunde kam.
McGonigle wollte die Musik ausmachen, aber die Türen an Orlas Wagen ließen sich nicht öffnen, und durch die geborstene Windschutzscheibe zu fassen, brachte er nicht fertig. Er setzte sich in seinen klapprigen Ford und drückte mit beiden Händen auf die Hupe. Jetzt verschwand alles Licht, und der Regen spülte das Blut davon. Der Wind hörte auf zu wehen. Das Autoradio wurde leiser, das Prasseln der Regentropfen auf dem Blech zum sanften Lärm. McGonigle schloss die Augen und betete. Irgendwann würde jemand kommen, um zu helfen, obwohl es nichts zu helfen gab.
5
Dreimal die Woche ist Gruppensitzung. Dann versammeln sich Vermeer und ein zweiter Arzt, zwei Pfleger und neun Männer im Runden Raum. Der Runde Raum ist eckig, aber wir sitzen mit unseren Stühlen in einem Kreis auf einem bunten runden Teppich. Ich muss mitmachen, obwohl ich nicht rede. Vermeer meint, ich würde irgendwann etwas sagen, wenn ich nur lange genug den anderen zuhöre. Sein Kollege, der Pendergast heißt, redet kaum und macht sich dauernd Notizen. Er ist jünger als Vermeer, vielleicht fünfunddreißig, hat aber eine Glatze, auf der sich ein paar helle Haare gehalten haben. Dafür wächst ihm ein Bart, was aussieht, als trage er den Kopf verkehrt herum auf dem Hals. Er ist klein und füllig und seine Stimme so tief, dass man meinen könnte, er verstelle sie, um erwachsener zu wirken. Er trägt Cordanzüge, hell- und dunkelbraune, dazu Ledersandalen. Melvin sagt, Pendergast schwimme jeden Tag fünfzig Längen. Das Schwimmbecken hier hat olympische Maße, und ein Bademeister passt auf, dass sich keiner von uns darin ertränkt.
Ich kann Pendergast nicht leiden. Nicht nur, weil er freiwillig schwimmt. Es sind seine Gesten. Jede seiner Bewegungen scheint einstudiert. Wie er den Kugelschreiber aus der Innentasche seines Jacketts nimmt. Wie er die Seiten des Schreibblocks umschlägt und den Arm ausstreckt, bevor er etwas aufschreibt. Wie er sich über den Bart streicht und dann über die Krawatte. Die Art, wie er sich zu Vermeer lehnt, um ihm wichtige Beobachtungen ins Ohr zu flüstern. Oder wie er die Beine übereinanderschlägt und dann die Hosenbeine zurechtzupft. Eine steife Choreografie aus Wiederholungen, eine Endlosschleife penibler Bewegungsmuster. Pendergasts Körpersprache ist eine digitale Bandansage, eine maschinelle Mitteilung, deren Sinn nach unzähligem Abspielen ins Absurde kippt.
Eigentlich will keiner der Männer hier sein, aber die Sitzungen sind Pflicht. Das Reden in der Gruppe soll die Männer öffnen, das Thema Suizid frei diskutiert werden, hat Melvin mir erklärt. Vermeer hält es für eine wirkungsvolle Therapie, wenn die Männer ihre Ängste in Worte fassen. Wer fünfmal erscheint, darf einmal aussetzen. Wer dreimal nicht aufkreuzt, wird in die Halboffene Abteilung verlegt. Weil sich keiner den Aufenthalt hier verscherzen will, sitzt jeder pünktlich auf seinem Stuhl.
Die Sitzungen laufen immer ähnlich ab. Vermeer begrüßt alle, stellt die Neuen vor und fordert uns dann auf, loszuwerden, was uns auf dem Magen liegt und unsere Seele bedrückt. Keiner will freiwillig den Mund aufmachen, und so bittet Vermeer meistens Stan, als erster zu reden. Stan will immer von seinen Düngemitteln erzählen, aber dann fordert Vermeer ihn jedes Mal freundlich auf, von sich zu berichten, von seinem Leben und seinen Problemen, warum er hier ist und ob er seine Frau vermisst. Aber Stan doziert lieber über Kompost und Kuhmist und hält sich ansonsten bedeckt.
Wenn Rodrigo loslegt, klingt es, als ob er den Hergang einer Schlägerei erzählt, jedenfalls fuchtelt er mit den Fäusten und benutzt spanische Ausdrücke, die nach wüsten Flüchen klingen. Vermeer versucht dann immer, ihn zu bremsen, und blättert in einem Wörterbuch, das auf seinen Knien liegt.
Roger erzählt mit leiser, aber fester Stimme von Umweltgiften und Chemiekonzernen, von Grundwasser und Tod. Dabei betet er chemische Substanzen und Firmennamen herunter und bewegt seine Finger, als zupfe er in seinem Schoß Unkraut.
Elroy redet nicht viel, und wenn, dann zählt er emotionslos Gründe auf, die es rechtfertigen, sich umzubringen. Dazu steht er auf wie ein Schüler im Unterricht und legt sich das weiße Handtuch, auf dem er sonst sitzt, über den Kopf. Vermeer versucht geduldig, Elroys Katalog zu widerlegen, aber Elroy zuckt nur mit den Schultern, faltet das Tuch penibel zusammen und setzt sich hin.