Sam streitet sich jedes Mal mit Vermeer, weil er nichts sagen will, be vor nicht die Ziegen aus dem Garten entfernt werden. Erst wenn Vermeer Abhilfe verspricht, wird Sam ein paar Sätze los. Er weist uns alle darauf hin, dass er Selbstmord nicht mehr als Lösung betrachtet und nur noch hier ist, weil er gebraucht wird. Sam arbeitet in der Schreinerei und hält sich für unersetzbar. Er baut gerade zwanzig Sitzbänke für den Park, danach plant er ein Gartenhaus und einen Geräteschuppen. Ich glaube, er würde den Eiffelturm aus Holz nachbauen, um seinen Aufenthalt hier zu rechtfertigen.
Wenn Wayne an der Reihe ist, brabbelt er irgendetwas von einer großen fetten Frau, die ihn in eine Kühltruhe sperrt. Er liebt es, zu demonstrieren, wie er zusammengekrümmt in der Kälte hockt und sich die Ohren reibt, damit sie nicht abfrieren. Manchmal kriecht er unter seinen Stuhl, zittert und ruft, sein Selbstmordversuch sei ein Missverständnis gewesen, ein Unfall. Er habe die Kühltruhe nur reparieren wollen, damit seine Frau endlich Ruhe gebe. Von Melvin weiß ich, dass Wayne alleine lebte, bevor er hier landete. Vor einem Jahr hat er Schlaftabletten genommen und sich in die Kühltruhe gelegt, in der schon seine tote Katze lag. Das Tier war Waynes Kind gewesen und tags zuvor gestorben. Stunden später war Wayne, halb erfroren, von einem Nachbarn entdeckt worden, der regelmäßig Fleisch von ihm stahl. Nach seinen Auftritten setzt Wayne sich wieder hin und verschränkt die Arme vor der Brust, als fröstele ihn vom Erzählen.
Ein Typ, der zwei Tage nach mir hier eingeliefert wurde, macht aus der Möglichkeit, sich Dinge von der lädierten Seele zu reden, eine kleine Show. Er ist ein paar Jahre älter als ich, aber noch keine dreißig, und wenn er redet, denke ich immer, er sei auf Speed oder Koks, obwohl das hier drin vermutlich unmöglich ist. Er stellt sich in die Mitte des Teppichs, da, wo die farbigen Kreise in einem goldgelben Punkt enden, hält eine Rede über den Krieg und dreht sich dabei so, dass er jedem von uns eine Minute lang in die Augen starren kann. Vermeer spricht ihn mit Edward an, aber er selber nennt sich Kanonenfutter Carson. Sam sagt, Carson sei desertiert und spiele den verhinderten Selbstmörder nur, um dem Militärgericht zu entgehen. Wenn das stimmt, ist der Typ ein verdammt guter Schauspieler. Ich weiche seinem Blick jedenfalls immer aus und bin froh, wenn er endlich wieder sitzt und schweigt.
Der achte Mann wechselt ständig, weil Vermeer ein Rotationsprinzip entwickelt hat, bei dem nach jeder Sitzung der Mann links außen die nächste Runde auslassen darf und an seiner Stelle ein anderer dazukommt.
Ich bin jetzt seit sechs Tagen hier, heute ist meine dritte Sitzung. Der Nachgerückte heißt Raymond. Ich habe ihn schon mit einem Buch in der Hand durch die Gänge wandern sehen. Melvin sagt, Raymond sei schon eine Weile hier. Melvin scheint es egal zu sein, dass ich nicht rede oder Fragen stelle. Er hält mich jeden Morgen beim Frühstück auf dem laufenden, erzählt mir, wer raus und wer neu drin ist, wer in Ordnung sei und wen ich besser meiden soll. Raymond kann dem Treffen nicht viel abgewinnen und nutzt seine Sprechzeit, um sich über das Essen zu beschweren. Seiner Meinung nach gibt es zu viel Gemüse und Huhn und zu wenig rotes Fleisch. Er und Sam sollten einen Verein gründen und den ganzen Tag mit Petitionen rumrennen.
«Danke, Raymond, auch wenn ich heute gerne etwas Persönliches von Ihnen gehört hätte«, sagt Vermeer und macht sich Notizen.
«Das war persönlich«, sagt Raymond.»Bevor ich hier reingesteckt worden bin, habe ich jeden Tag ein Steak gegessen.«
Pendergast rutscht auf seinem Stuhl nach vorne und drückt das Kreuz durch.»Wir haben Sie beim letzten Treffen mit den Resultaten der Studie bezüglich des Zusammenhangs zwischen dem Verzehr roten Fleisches und aggressiver Verhaltensweise vertraut gemacht, nicht wahr?«
Raymond verdreht die Augen und nickt.
«Und wir möchten Sie noch einmal darauf hinweisen, dass niemand Sie hier ›reingesteckt‹ hat. «Pendergast lässt den Blick durch die Runde schweifen.»Ihr Aufenthalt bei uns basiert einzig und allein auf Ihrem Einverständnis. «Sein Blick streift uns erneut, diesmal in umgekehrter Richtung. Stan und Roger nicken mit gesenkten Köpfen.»Und dem Willen, Ihrem Leben eine neue, positive Richtung zu geben.«
Ein paar der Männer murmeln.
«Außerdem ist Ihnen doch bekannt, dass Sie Beschwerden und Anregungen schriftlich einreichen können, nicht wahr?«
«Ich sag’s Ihnen lieber so, Doc, ist persönlicher. «Raymond grinst treuherzig.
Pendergast lehnt sich zu Vermeer und flüstert ihm ins Ohr.
Vermeer nickt und wendet sich an Raymond.»Das ist zwar nicht der übliche Weg, aber ich werde sehen, was ich für Sie tun kann. «Er blättert die Seite seines Blocks um und sieht dann Stan an.»Stanley, haben Sie noch etwas auf dem Herzen, das Sie uns erzählen möchten?«
Stan rutscht auf seinem Stuhl herum und blinzelt heftig, als hätte er etwas in den Augen. Er war heute schon dran, als erster, wie immer. Er hat von einem Dünger aus Knochenmehl erzählt und ist jetzt verwirrt, dass Vermeer ihn noch einmal anspricht. Er nimmt die Brille ab, betrachtet sie und legt die Bügel um. Dann steckt er sie in die Brusttasche des Hemdes. Sam ächzt laut, aber Stan lässt sich nicht beirren, holt die Brille wieder hervor, klappt sie auf, wischt die Gläser sauber und setzt sie schließlich auf.
«Ich hatte einen Garten«, sagt Stan ruhig. Rodrigo und Raymond stöhnen laut auf.
«Oh, Mann, ich glaub’s nicht!«ruft Wayne.
«Bitte«, sagt Vermeer und wartet, bis alle ruhig sind. Dann richtet er sich an Stan, der die Brille wieder abgenommen und eingesteckt hat.»Stanley, Sie haben uns doch schon von Ihrem Garten erzählt.«
«Bloß drei Millionen Mal«, sagt Wayne.
«Vielleicht möchten Sie uns heute einmal erzählen, weshalb Sie hier bei uns sind und nicht zu Hause bei Ihrer Frau.«
Pendergast blättert in seinen Akten, lehnt sich dann zu Vermeer hinüber und murmelt ihm ins Ohr.
«Genau, Stanley, erzähl uns das doch mal!«sagt Sam gerade laut genug, um gehört zu werden.
«Und davon, wie du dich ausknipsen wolltest!«ruft Rodrigo.
Einer der Pfleger, bestimmt ein ehemaliger Verteidiger im Collegefootball, macht einen Schritt aus der Ecke, in der er seit Sitzungsbeginn steht und darauf wartet, dass einer der Männer ausrastet und auf einen von uns oder einen Arzt losgeht.
«Bitte«, sagt Vermeer etwas lauter,»wir haben Regeln aufgestellt, an die wir uns halten. «Er ignoriert Sams Lachen und dass Wayne mit dem Tuch über dem Kopf unter den Stuhl kriecht und lächelt Stan aufmunternd an.»Also, Stanley, Sie sind verheiratet, nicht wahr?«
Stan setzt die Brille erneut auf, dann nickt er.»Meine Frau heißt Norma«, sagt er nach einer Weile.»Sie schreibt mir einmal im Monat. «Er verstummt und sieht in die Runde, als habe er vergessen, was er sagen wollte. Er nimmt die Brille ab und betrachtet sie.
Vermeer wartet. Stan reibt die Gläser und setzt die Brille auf, sieht ins Leere. Wayne streckt sich, atmet lautstark aus. Rodrigo murmelt vor sich hin.
«Freuen Sie sich über die Briefe Ihrer Frau, Stanley?«fragt Vermeer schließlich.
Stan scheint zu überlegen. Kann auch sein, dass er die Frage nicht gehört hat. Seine Hände ruhen gefaltet in seinem Schoß. Alle sehen ihn an, auch Wayne, der auf dem Boden liegt.
«War an dem Brief von heute etwas Besonderes, Stanley?«fragt Vermeer.
Stan sieht Vermeer an. Sein rechter Zeigefinger kratzt hastig die linke Handfläche. Sein bleiches Gesicht ist starr, er sieht aus wie ein Schüler, der die entscheidende Prüfungsfrage nicht beantworten kann.
Vermeer lächelt, er will Stan nicht in Verlegenheit bringen, obwohl er genau das tut.»Heute ist Ihr Hochzeitstag, Stanley, nicht wahr?«sagt Vermeer.»Fünfundzwanzig Jahre, so lange sind Sie mit Norma verheiratet.«