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Stan sieht Vermeer an, als habe ihn dieser eines Verbrechens überführt. Wenn er die Stelle an der Hand weiter so kratzt, blutet sie gleich.

«Fünfundzwanzig Jahre«, sagt Sam,»alle Achtung, Stan!«Raymond klatscht ein paar Mal in die Hände.

«Warum feierst du nicht mit ihr, Mann?«ruft Rodrigo.»Geh nach Hause, trink was und besorg’s ihr!«Er, Raymond und Sam lachen, Wayne setzt sich kichernd auf seinen Stuhl.

«Rodrigo, ich muss Sie wirklich bitten«, sagt Vermeer.»Wenn Sie sich zu Wort melden, sollten Sie unsere Regeln einhalten. Unflätigkeiten hatten wir aus diesem Raum verbannt.«

«Ist doch wahr«, sagt Rodrigo und dann etwas auf Spanisch.

«In einem Punkt hat Rodrigo vielleicht recht«, sagt Vermeer, nachdem Wayne endlich aufgehört hat zu kichern.»Sie sollten sich überlegen, mit Ihrer Frau zu feiern, Stanley.«

Stan nimmt die Brille ab, sieht sie lange an, reibt die Gläser am Pullover sauber, legt die Bügel um und steckt die Brille in die Brusttasche. Pendergast setzt den Punkt ans Ende eines Satzes und streicht sich über Bart und Krawatte.

Stan weint. Ich sehe die Tränen und wende den Blick ab. Die anderen fühlen sich auch plötzlich unbehaglich, keiner schaut ihn jetzt mehr an, nicht einmal Wayne. Pendergast räuspert sich. Stan zieht die Brille aus der Tasche und setzt sie auf. Dann weiß er nicht, wohin mit seinen Händen. Ich stehe auf und verlasse den Raum. Nach mir kommen Roger und Elroy auf den Flur, dann Sam, Wayne und Carson, schließlich Raymond und Rodrigo mit dem zweiten Pfleger. Ich drehe mich um und sehe, wie Vermeer vor Stan kauert und auf ihn einredet, dann fällt die Tür zu.

Am späten Nachmittag sitze ich im Park und lese die Reportage über den Stamm in Papua-Neuguinea zu Ende. Aber ich kann mich nicht auf den Text konzentrieren und lege das Heft immer wieder weg und sehe Ho zu, der in einer Ecke der Wiese einen selbstgebauten Drachen steigen lässt. Obwohl es fast windstill ist, steht der gelbe Kubus aus Balsaholz und Papier hoch über den Bäumen, die das fußballfeldgroße Rasenstück an drei Seiten einfassen. Wenn doch etwas Wind aufkommt, trägt er den Geruch der Ziegen herüber. Elroy, Lefty und ein alter Mann, den ich nicht kenne, spielen Frisbee. Elroy kann weder werfen noch fangen. Er hebt die Scheibe auf, rennt auf Lefty zu und wirft sie mit beiden Händen wie einen Teller. Zwei Wärter schlendern umher. Sie vermeiden es, so auszusehen, als passten sie auf uns auf.

Ich nehme mir vor, Vermeer zu fragen, wo mein Koffer ist. Vielleicht würde mir der Anblick meiner Habseligkeiten helfen, mich an die Zeit zu erinnern, die zwischen meinem letzten Tag im Hotel und meiner Ankunft hier vergangen ist. Daran, dass ich mich am Empfang mit Conor Finnerty eingetragen habe, erinnere ich mich noch, auch an die alten Männer, an die schäbige Lobby, den launischen Kerl hinter der Theke und den griechischen Nachtportier. Ich sehe das pornografische Foto vor mir, das in der Hotelbibel lag. Die Frau ist schön, ihr Lidschatten blau wie die Tapete im Hintergrund.

Sam und Rodrigo tragen eine Bank aus dem Gebäude, wo die Schreinerei liegt, auf die Wiese und stellen sie unter eine Baumgruppe. Sam betrachtet die Bank, umkreist sie, geht in die Hocke und entfernt sich ein paar Schritte, um sie erneut zu studieren. Dann geht er zurück. Rodrigo zündet sich eine Zigarette an und legt sich auf die Bank. Beide sehen mich, beachten mich aber nicht. Soll mir recht sein. Ich sitze auf dem Hotelbett und habe etwas vor, weiß aber nicht, was. Ich erhebe mich und gehe über den Kiesweg zur Tür, öffne sie und trete auf den lichtlosen Flur, Ziegengeruch umweht mich, den Fahrstuhl benutze ich nie, nehme die Treppe und stehe in der Lobby, Gras unter den Füßen, blicke in den Himmel, wo der gelbe Drachen fliegt, und weiß nicht, wohin ich soll. Ich schließe die Augen und warte, und irgendwann bewege ich mich, fahre davon, in einem Wagen oder Bus. Aber wohin? Ans Meer, aus dem man mich später herausziehen wird? Je länger ich versuche, den Verlauf der fehlenden Stunden zu rekonstruieren, umso leerer wird mein Kopf.

«Alles in Ordnung?«

Das Fahrzeug setzt seine Reise ohne mich fort. Ich öffne die Augen. Aimee lächelt mich an. Die Narbe auf ihrer Wange ist hautfarben, ein winziger Smileymund.

«Wer meditiert, lebt länger«, sagt sie.»Hab ich gelesen. «Sie sieht mich leicht besorgt an.

Ich lächle, mein Nicken bezieht sich auf ihre Frage, ob alles in Ordnung sei. Nicht dass ich bereue, stumm zu sein, aber jetzt würde ich sie gerne fragen, wo sie die ganze Zeit gewesen sei, ob sie nur auf der Krankenstation arbeite und ob sie in einem der Häuser wohne, in denen die Ärzte und das Pflegepersonal untergebracht sind.

«Diese Woche hab ich in der Offenen Dienst«, sagt sie, als habe sie meine Gedanken gelesen.»Man hat dich zu Melvin gesteckt, stimmt’s?«

Ich nicke. Ich würde mich gerne mit ihr auf eine Bank setzen und unterhalten. Sie hat eine schöne Stimme, und wenn sie lächelt, fühle ich mich gut. Sie trägt keinen Lidschatten, nur etwas Lippenstift und Wimperntusche. Ich stelle mir vor, wie es gewesen sein könnte, wenn wir uns draußen begegnet wären. Möglich, dass sie mir in der Nähe des Hotels über den Weg gelaufen wäre. Vielleicht hätte es geregnet, und die Zeitung über ihrem Kopf wäre völlig durchgeweicht gewesen. Ich hätte ihr meinen Schirm angeboten. Erst hätte sie mich für einen Verrückten gehalten, für einen der Irren, von denen es in der Gegend wimmelt. Oder sie hätte gedacht, ich wolle sie anmachen. Dann hätte ich irgendetwas Harmloses gesagt, etwas Nettes, vielleicht sogar Geistreiches, Witziges. Sie hätte gelacht, na ja, gelächelt. Der Regen wäre heftiger geworden, sie hätte ihren Argwohn abgelegt und mit einer Hand nach dem Schirmgriff gefasst. Oder sie hätte sich bei mir untergehakt, jegliche Bedenken verwerfend. Ein kalter Wind hätte uns in ein Café getrieben, wo alte Leute aus der Nachbarschaft sitzen, Karten spielen und über die Launen ihrer Haustiere reden. Wir hätten Milchkaffee getrunken, ihr Haar wäre feucht gewesen. Die Kellnerin hätte sie Kindchen genannt und uns warmen Apfelkuchen aufgeschwatzt. Der Regen wäre gegen die Scheiben geprasselt, die Welt auf diesen Ort geschrumpft. Sie hätte mir erzählt, dass sie Aimee heiße, als Pflegerin arbeite und drei Blocks entfernt wohne. Dann hätte sie mich aufgefordert, von mir zu erzählen, und ich hätte auf die Straße hinausgeschaut und nicht gewusst, wo ich beginnen soll.

«… wenn ich dich Will nenne. So heißt du doch, oder? Will.«

Ich sehe sie an. Ihre Haare sind nicht mehr feucht, der Streifen aus Milchschaum über ihrer Lippe ist verschwunden. Ich habe nicht gehört, was sie gesagt hat. Sie lacht, schüttelt den Kopf. Vermutlich bin ich rot angelaufen. Dann nimmt sie meine Hand.»Komm mit«, sagt sie und zieht mich über die Wiese. Das Gras unter meinen Füßen ist weich, verfärbte Blätter liegen herum, in den Büschen scharren Vögel, schwarze Amseln. Wir gehen durch einen kleinen Wald, ich sehe Eichhörnchen, bestimmt von Vermeer hier angesiedelt.

In der Hütte riecht es nach Harz, die Scheiben sind schmutzig und die Bodenbretter auch. Aimee zieht die Tür zu. In den Ecken schaukeln Spinnweben im Luftzug, staubgepudert. Fliegen liegen darin wie in zu großen Hängematten. Aimee streift das Sweatshirt über den Kopf und gibt es mir. Dann öffnet sie den Verschluss des Büstenhalters und nimmt ihn ab. Dabei sieht sie mich unentwegt an. Ich senke den Blick und starre auf ihre Brüste, weil ich ihr nicht ins Gesicht sehen kann. Sie nimmt meine Hand und legt sie auf ihre Brust. Ich bewege meine Finger nicht, vergesse zu atmen. Ihre Haut ist warm, meine Hand kalt. Schwarze Flecken tanzen vor meinen Augen, ich schließe sie, atme ein. Aimee sagt etwas, leise.

Ich weiß nicht, wie lange ich dastehe in meiner Dunkelheit. Ich versuche, an etwas zu denken, das mir weiterhilft, aber es fällt mir nichts ein. Meine Augen öffnen sich, ich sehe meine Schuhspitzen. Dann drehe ich mich um, reiße die Tür auf und stürze aus der Hütte, renne zwischen den Stämmen hindurch und über die Wiese, wo Elroy, Lefty und der Alte noch immer Frisbee spielen. Sam und Rodrigo tragen die Bank zurück in die Tischlerei. Elroy ruft mir etwas nach, aber ich verstehe ihn nicht.