Nach dem Gottesdienst kamen meistens Gäste zum Mittagessen, das Pauline schon am Samstag vorbereitet hatte. Waren alte Leute unter den Besuchern, musste Wilbur ihnen zu Kaffee und Kuchen etwas vorlesen, mit Bleistift markierte Stellen aus der Bibel oder erbauliche Kurzgeschichten eines schottischen Landpfarrers und Laienschriftstellers, in denen es um opferbereite Missionare, selbstlose Nonnen und kluge Hirtenhunde ging. Nach jeder dieser Lesungen wurden Wilburs Vortragskunst, seine klare Aussprache und helle Stimme gelobt, und Pauline ließ sich voller Eifer darüber aus, wie wichtig es sei, täglich ein gutes Buch zur Hand zu nehmen, gerade in einer von der Unkultur des Fernsehens geprägten Zeit.
Obwohl es Wilbur bei solchen Gelegenheiten drängte, etwas zu sagen, schwieg er. In den ersten Tagen nach seiner Ankunft hatte er sich allabendlich die Treppe hinuntergeschlichen, um durch den Türspalt ins Wohnzimmer zu spähen und zu sehen, was seine Pflegeeltern bis spätnachts wach hielt, und er wusste, dass es nicht die Lektüre von Büchern war. Die Satellitenschüssel, an der Rückseite des Daches angebracht und von der Straße her nicht zu sehen, speiste das Fernsehgerät der Conways mit englischen Seifenopern und amerikanischen Krankenhausserien, einem wüsten Reigen aus Trennungen, Krebsleiden, Bankrotten, wundersamen Heilungen, häuslicher Gewalt, Geständnissen auf der Intensivstation, ungewollten Schwangerschaften und verschollenen Zwillingsbrüdern.
Wilbur sah sich diese düsteren, von gelegentlichen Leuchtfeuern vermeintlicher Glücksmomente erhellten Sagen menschlichen Zusammenlebens ein paar Tage lang an, dann blieb er nachts lieber in seinem Zimmer und übte mit tiefer Stimme markante Sprüche seines zähen Helden. Manchmal, wenn er an das Fernsehgerät dachte, das ihm gehörte und das er bei Colm hatte zurücklassen müssen, wurde er wütend. Sein Leben hätte um einiges weniger langweilig sein können, wenn man ihn nicht hierher verfrachtet hätte. Jede Nacht hätte er, vom schlafenden Colm unbemerkt, ins Wohnzimmer gehen können, um sich Filme anzusehen, die nur zu später Stunde gezeigt wurden, weil die Leute darin fluchten und andere Leute erschossen und sich küssten.
Wilbur empfand es als unerträgliche Verschwendung, dass seine Pflegeeltern sich einen solchen Mist ansahen, und wenn er tagsüber mal alleine war, weil Pauline für ein paar Minuten wegmusste, warf er mit Steinen nach der Schüssel. Er schaffte es sogar, sie so zu treffen, dass ein Mechaniker kommen und ein Teil ersetzen musste. Alle fragten sich, wie der Schaden entstanden war, und als der Mann Dellen in der Schüssel entdeckte und ein paar Steine in der Dachtraufe fand, wurde Wilbur zur Rede gestellt. Erst stritt er alles ab, doch unter dem Druck des Verhörs, das Pauline perfekt beherrschte, gestand er schließlich und rechtfertigte seine Tat damit, dass Pfarrer Fowley das Fernsehen ein Werk Satans genannt hatte. Damit war Wilbur in den Augen der Conways zwar ein fehlgeleiteter Jugendlicher, der die metaphorisch gemeinte Aussage eines Geistlichen zu wörtlich genommen hatte und Nachsicht verdiente, aber einer Strafe entging er dennoch nicht. Sein aus pädagogischen Gründen bereits kümmerliches Taschengeld wurde bis zur Tilgung der Reparaturkosten gestrichen, und er musste die Regenrinnen reinigen. Henry fand zwar, die Arbeit auf der Leiter sei für einen kleinen Jungen zu gefährlich, aber wie immer setzte Pauline sich durch.
Während Wilbur in fünf Metern Höhe auf den Sprossen der Leiter stand und verrottetes Laub aus der Rinne schaufelte, dachte er daran, sich fallen zu lassen. Er malte sich aus, wie er auf dem Rasen aufschlagen und sich beide Beine brechen und wie Pauline beim Anblick seiner zerschmetterten Glieder das Bewusstsein verlieren würde. Der Gedanke gefiel Wilbur und half ihm, die Arbeit hinter sich zu bringen. Er gefiel ihm aber nicht gut genug, um den Sprung von der Leiter tatsächlich zu wagen.
Wie er es versprochen hatte, besuchte Colm Wilbur nach einer Woche. Er war dünn geworden, und Wilbur sah, wie jedes Lächeln ihn Kraft kostete. Colm hatte eine seiner Tonfiguren dabei, ein Nashorn, das er Wilbur schenkte. Wilbur zeigte ihm sein Zimmer, danach saßen sie im Garten, sahen in den Himmel und fachsimpelten über die Wolken und den Wind und ob es bald regnen würde. Als es dann tatsächlich regnete, machte Pauline ihnen Tee, und nach zwei Stunden verabschiedete sich Colm und ging. Wilbur hätte ihn gerne gebeten, das nächste Mal den Fernseher mitzubringen, heimlich natürlich, damit Pauline nichts merkte, aber er wusste, wie albern sein Wunsch war.
Am Gartentor umarmte Colm ihn und machte sich dann auf zur Bushaltestelle. Der Regen hatte aufgehört, aber es war kalt geworden und dunkel unter den tiefen Wolken. Wilbur sah dem alten Mann in seinem schwarzen Sonntagsanzug nach, und plötzlich durchströmte ihn ein banges, schmerzliches Gefühl, dessen Ursache er nicht benennen konnte. Er wollte Colm nacheilen und seine Hand nehmen und mit ihm den Weg bis zur Kreuzung gehen, aber dann rief Pauline ihn hinein, weil er vor dem Abendessen seine Hausaufgaben machen musste. Wilbur gehorchte widerwillig, rannte in sein Zimmer hoch und beobachtete durch ein Fenster, wie Colm auf der schwarzen, vom Regen glänzenden Straße immer kleiner wurde und schließlich hinter einer Kuppe verschwand.
Nach dem Abendessen schrieb Wilbur Colm einen Brief, in dem er sich für das Nashorn bedankte und ihm sagte, dass er ihn vermisste. Weil ihm danach nichts mehr einfiel, schrieb er den Text von Mistletoe and Wine darunter und nahm sich vor, Colm beim nächsten Besuch die Melodie des Liedes beizubringen. Dann zeichnete er etwas, das ein Nashorn sein sollte, steckte den Brief in einen Umschlag und legte ihn in das Versteck.
In dieser Nacht lag Wilbur lange wach, und wenn er sich anstrengte, konnte er von unten die Musik der Seifenopern und die Stimmen der Schauspieler hören. Er überlegte, wie es wohl war, so zu tun, als sei man jemand anderes. Er fand Gefallen an der Idee, sein Leben sei eine Inszenierung und er eine Figur, die es nicht wirklich gab. In so einem Spiel konnte er verletzt werden, ohne Schaden zu nehmen, genauso wie Orla es ihm im Kino erklärt hatte. Das Schicksal mochte Kugeln und Pfeile auf ihn abschießen, doch er war unverwundbar. Er verspürte weder Freude noch Ungeduld, wenn er sich den weiteren Verlauf seines Lebens vorstellte, aber sterben wollte er auch nicht mehr. Der Mann im Film nahm in jeder Sekunde den Tod in Kauf, versuchte jedoch mit allen Mitteln, ihn zu verhindern. Es war nicht die Liebe zum Leben, die ihn auf den Beinen hielt, es war die Verachtung für den Tod. Man musste die eigene Existenz als Kräftemessen begreifen, als Wettkampf des Menschen gegen eine höhere Gewalt, die alles daransetzte, einen zu vernichten.
Die Frage, die Wilbur sich stellen musste, lautete, ob er weich und feige sein wollte wie sein Vater oder zäh und gnadenlos wie der Mann im Film. Die Antwort war so klar, dass Wilbur in dieser Nacht Gott nicht mehr bat, ihn umzubringen. Er hörte überhaupt auf zu beten und murmelte stattdessen Sätze ins Dunkel, die seine Angst in Mut verwandelten und seine Verzweiflung in sture Kraft. Er wollte stark werden und hart und wünschte sich, irgendwann nichts mehr fühlen zu müssen.