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«Ein Cello«, sagte der Alte.

Wilbur senkte den Blick, drehte die Schuhspitzen einander zu.

«Ich konnte mal darauf spielen. Früher, als ich noch meine Schuhe binden konnte. «Der Mann lachte. Es klang wie ein leises Husten.

Eine Weile saßen sie da und hörten auf das Ticken der Uhr, deren Pendel hinter einem runden Fenster schwang. Es war warm in dem Zimmer, obwohl im Kamin kein Feuer brannte. All die Gegenstände, die es füllten, schienen Wärme abzugeben. Wilbur hatte Durst, er wollte weg. Aber er blieb sitzen. Der Sessel umschloss ihn, er versank langsam in ihm.

«Magst du Musik?«fragte der Alte. Er stand auf, ging zu der Kommode, nahm eine Schallplatte daraus hervor und legte sie auf den Teller des Plattenspielers. Als er das Gerät einschaltete, gaben die Lautsprecher, die in den Regalen zwischen Büchern standen, ein Knacken von sich, dann brummten sie träge wartend. Wenig später erklang eine Musik, deren erste langgezogene Töne in Wilburs Bauch strömten, sich ausbreiteten und langsam aufstiegen, sachte an seinen Schläfen rieben und dann in seinem Kopf kreisten, ein Schwarm leuchtender Käfer in tiefdunkler Umlaufbahn, ein sanftes Scheuern von Flügeln, Wärme erzeugend, ein endloses Rollen, Summen, ein Licht in der Finsternis des Schädels. Wilbur bewegte sich nicht, atmete nicht. Die Musik machte das für ihn, übernahm seinen Körper. Wilbur wurde schwer, er versank, und trotzdem flog er. Die Augen geschlossen, schwebte er über sich, über der Welt, hellwach und in tiefem, aufgewühltem Schlaf.

Als die Klänge verebbten und die Nadel in der Auslaufrille kratzte, wusste Wilbur nicht, wie viel Zeit vergangen war. Er blinzelte ins Dämmerlicht und sah, dass er alleine war. Er wartete und horchte, stand schließlich auf und spähte in die angrenzende Küche, dann hob er den Tonarm von der Platte und stand eine Weile da. Er berührte das Sitzpolster des zweiten Sessels, es war kühl. Er wollte rufen, aber dann tat er es nicht und verließ das Haus.

Auf dem Vorplatz sah er zu den Fenstern hoch, doch nirgendwo brannte Licht, hinter keinem Vorhang bewegte sich etwas. Ein dichter Nieselregen strich ihm über das Gesicht, und Wilbur drehte sich um und rannte zum Haus der Conways.

Die Schule fing wieder an und damit das Getuschel über Wilbur. Alle auf dem Pausenhof wussten, dass er bei den Conways lebte. Wieder war es Erin Muldoon, die ihn ansprach, während die übrigen Schüler nur verhohlen glotzten. Sie fragte, ob Wilbur an einem Sonntagnachmittag zu ihr kommen wolle, aber er sagte, das ginge nicht, weil er den alten Leuten aus der Bibel vorlese. Erin versuchte es mit einem Samstag und dann mit irgendeinem Tag der Woche, gab aber auf, als Wilbur für jeden eine Verpflichtung hersagte. Sie presste die Lippen zusammen, drehte sich um und ging zu ihren Freundinnen, in deren Mitte sie verschwand wie ein Fisch zwischen wogendem Tang. Lachen und Gemurmel stiegen aus diesem Wald, und Wilbur setzte sich abseits der anderen Kinder auf eine Mauer und versuchte, die Klänge, nach denen er sich sehnte, in seinem Kopf zum Schwingen zu bringen. Wenn er die Augen schloss, gelang es ihm manchmal, dann wurde er wieder schwer und schwebte, bis die Glocke schrillte oder ein Kieselstein seinen Kopf traf und grölendes Lachen die Musik verdrängte.

Dem Unterricht folgte Wilbur wie im Traum. Sein Gehirn war ein Schwamm, der alles aufsog, was er las oder hörte. Er wusste, dass er etwas Besonderes war, und er nahm es hin. Das half ihm, den Neid und Spott der Mitschüler zu ertragen. Man schubste ihn herum und versteckte seine Bücher, flüsterte ihm auf dem Flur Beleidigungen ins Ohr und stellte ihm ein Bein. Von Sean Finn und Niall McCoy fing er ab und zu eine Kopfnuss ein oder einen versteckten Tritt ans Schienbein. Er gewöhnte sich daran. Auch an die Blicke und das Kichern der Mädchen, an die Art, wie sie sich von ihm abwandten und eine gewölbte Hand vor den Mund hoben, um über ihn zu tuscheln. Welche Gerüchte sie verbreiteten, wusste er nicht, und es war ihm gleichgültig. Hin und wieder warf ihm Sean Finn ein paar Brocken davon zu in der Hoffnung, Wilbur würde ihn einen Lügner nennen und damit ein paar Ohrfeigen und Magenhiebe rechtfertigen, aber sein Lieblingsopfer stellte sich taub.

Weil die Tätlichkeiten gegen Wilbur im Geschiebe auf den Fluren und in dem Gedränge auf dem Pausenhof verborgen blieben und Wilbur sich nie beschwerte, hatten die Lehrer keinen Grund, etwas zu unternehmen. Miss Ferguson sah zwar, dass Wilbur oft drangsaliert wurde, aber sie wollte ihn nicht noch mehr zum Außenseiter machen, indem sie ihn übermäßig schützte. Sie verbarg so gut es ging ihre Zuneigung zu ihm, die hauptsächlich auf der Bewunderung seiner außergewöhnlichen Intelligenz beruhte, wusste aber auch, dass es diese Intelligenz war, mit der der Junge den Hass seiner Mitschüler auf sich zog. So sah sie sich vor die schwierige Aufgabe gestellt, Wilbur im Unterricht zu fordern, ihn aber gleichzeitig nicht zu sehr aus der Menge der meist mittelmäßig begabten Kinder herausragen zu lassen.

Wilbur Sandberg würde die Grundschule in Portsalon zu Ende machen, das stand für seine Lehrerin fest. Mit zwölf würde er die Schule in Letterkenny besuchen, wie die übrigen seiner Klasse, die versetzt wurden. Welchen Weg er danach einschlagen sollte, lag nicht in ihrer Zuständigkeit. Es gab Schulen für Hochbegabte, aber ob Wilbur sich an einem Ort wohlfühlen würde, wo kopflastige Sonderlinge, weltfremde Streber und egozentrische Genies zur geistigen Elite geschmiedet wurden, bezweifelte sie. Sie betrachtete es als ihre Pflicht, ihm so viel Wissen mitzugeben, wie es der vorgegebene Unterrichtsplan erlaubte, aber mehr konnte sie nicht tun, obwohl ihr der Junge ans Herz gewachsen war.

Vielleicht hätte sie etwas gegen Sean Finn und Niall McCoy unternommen, wenn ihr der Sportlehrer von den blauen Flecken an Wilburs Schienbeinen erzählt hätte. Aber Fintan Taggart sah weder in Blutergüssen noch Kratzern oder Fleischwunden etwas Schlimmes. Im Gegenteil. Für ihn waren sie Beweise körperlicher Aktivität, unvermeidbare Folgen eisernen Trainings und unzimperlichen Einsatzes, er betrachtete sie als Auszeichnungen, die man trug wie Orden.

Eigentlich hätte Wilbur seinen Sportlehrer bewundern sollen. Fintan Taggart war ein harter Kerl. Er fuhr ein Rennrad und rannte im kalten Regen Berge hoch, an denen Spaziergänger außer Atem gerieten. Er konnte fluchen und mit einer dunklen Stimme brüllen, und Fotos bewiesen, dass er auf haushohen Wellen geritten war und Ziegelsteine mit der bloßen Hand entzweischlug. Die Jungen, die so werden wollten wie Taggart und auf dem besten Weg dazu waren, verehrten ihn. Wilbur hasste ihn. Fintan Taggart war der erste Mensch, den er töten wollte.

Dabei hatte Wilbur nichts gegen Sport. Unvoreingenommen betrachtet, schien er eine praktikable Möglichkeit, den Körper zu formen. In seinem Fall hätte das geheißen, Muskeln zu bilden und das mickrige Gewicht aufzustocken. Bis Taggart in Portsalon aufkreuzte, war es Miss Ferguson gewesen, die ihrer Klasse ein wenig Bewegung verschaffte. Dazu war man entweder auf den Pausenhof oder in die Turnhalle gegangen, eine bessere Scheune aus Wellblech, deren Wände und Dach bei starkem Wind schepperten. Darin trabten die Kinder im Kreis oder machten Freiübungen, begleitet vom Tamburin, auf das die Lehrerin mehr oder weniger rhythmisch schlug. Bei den harmlosen Ballspielen konnte es zu keinen Körperkontakten und folglich zu keinen Grobheiten kommen. Miss Ferguson legte viel Wert auf die therapeutische Wirkung eines Spiels, Härte und Kampf waren ihr ein Greuel.