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Ihr Favorit war ein Spiel, das sie Klingelball nannte. Dabei saßen die Schüler mit verbundenen Augen auf dem Boden und warfen sich einen mit Glöckchen gefüllten Ball zu. Es gab keine Mannschaften, Ziel war es, den Ball in einen Blecheimer zu befördern, den Miss Ferguson immer wieder verschob. Wilbur mochte an dem Spiel vor allem den Umstand, dass niemand ihn sehen konnte, denn in Turnzeug gab er eine noch dünnere und unfertigere Figur ab als in Straßenkleidung. Und das Klingelgeräusch des Balls gefiel ihm. Er stellte sich einen verirrten Vogel vor, der zwitschernd durch ihre Reihen flatterte und dem man in sein Nest helfen musste.

Das Ende der Turnstunde warf ihn jeweils schnell in die Realität zurück. Im Umkleideraum lachten die Jungs sich schief über seine bleichen Beinchen und Ärmchen und den handtuchbreiten Brustkorb, der hohl klang, wenn man dagegen stieß. Sie nannten ihn Alien und taten, als fürchteten sie sich vor ihm, nur um ihm gleich darauf einen schmerzhaften Knuff zu verpassen. Viele der Jungs waren Bauernsöhne, von der Arbeit auf dem Hof kräftig und derb. Ihre Haut war dunkel, und wenn sie prahlerisch und drohend die Arme anwinkelten, wuchsen kleine Muskelberge, die alle anfassen mussten. Neben diesen Kolossen fühlte Wilbur sich tatsächlich wie ein Außerirdischer. An Turntagen lag er abends im Bett und dachte sich eine Geschichte aus, in der er den Absturz eines UFOs überlebt hatte und jetzt unter den Menschen auf einem fremden Planeten ausharren musste. Man hatte wissenschaftliche Experimente mit ihm angestellt, doch war ihm die Flucht aus dem Labor gelungen. Er lag in der Dunkelheit, bewegte die Finger vor dem Gesicht und glaubte, sich an die Schläuche zu erinnern, die an ihn angeschlossen gewesen waren, und an die enge, gläserne Hülle des Raumschiffs.

Die Lehrerschaft hatte sich erfreut gezeigt, als Fintan Taggart anbot, den Sportunterricht an der Schule zu übernehmen. Miss Ferguson war die einzige gewesen, die Bedenken äußerte und meinte, sie würde die Spiele mit ihren Kindern vermissen. Dass der braungebrannte Mann, der zur Beerdigung seines Vaters aus Neuseeland angereist war, über keinerlei pädagogische Kenntnisse verfügte, störte weder die Verantwortlichen an der Schule noch die zuständigen Behörden. Fintan Taggart, zweiunddreißig Jahre alt, strahlte vor Gesundheit und Tatendrang, er war höflich, ehrgeizig und ein guter Christ, und nicht zuletzt war er ein Junge aus dem Ort. Einer der Lehrer hegte anfangs Zweifel an der Autorität des Sunnyboys, doch am jährlichen Schulsporttag bewies Taggart nicht nur unermüdlichen Einsatzwillen und Übersicht, sondern auch eine sichere und notfalls strenge Hand im Umgang mit den Kindern.

Dass er innerhalb eines Jahres und mit eigenen Händen eine Schwimmhalle erbaut hatte, die eine Bereicherung des Sportunterrichts darstellen und dem Ort zudem eine gewisse Popularität bescheren würde, war ein weiterer Grund für die Behörden, ihm eine Lizenz als Lehrer zu erteilen. Sein Vorhaben, den Kindern aus der Gegend das Schwimmen beizubringen, sah das Gremium als Geschenk des Himmels, an einer Sitzung wurde Taggart gar zum Gesandten Gottes.

Das Gebäude, in dem sich das Schwimmbecken befand, stand auf einer Wiese, auf der Taggarts Vater früher eine Handvoll Schafe weiden ließ. Der Tag der Einweihung war gleichzeitig der Tag, an dem Fintan Taggart offiziell als Lehrkraft der Schule von Portsalon bestätigt wurde. Drei Wochen nach den Herbstferien drängten sich Leute aus den umliegenden Orten, Lokalpolitiker, Lehrer, Geistliche und ein paar Reporter und Fotografen in dem Würfel, den graues, durch das Plexiglasdach fallendes Licht erhellte und in dem es nach Chlor und Farbe roch. Die Schüler, unter ihnen Wilbur, hatten auf der Wiese vor dem Gebäude Lieder gesungen und standen dann in der Kälte und warteten auf das Ende der Zeremonie. Drinnen sprangen ein paar Kinder, die bereits schwimmen konnten, vom Einmeterbrett und kletterten unter dem Applaus der Anwesenden aus dem Becken.

Taggart, in einem neuen Adidas-Trainingsanzug, hielt eine Rede und pries das Wasser als lebenspendendes Element, warnte aber auch vor dessen tödlicher Kraft. Er erntete beifälliges Murmeln von Eltern, als er die Unersetzbarkeit von Kindern betonte, ließ die Kirchenmänner ernst nicken, indem er den Schöpfer dafür pries, dem Menschen die Fähigkeit des Schwimmens verliehen zu haben, und den Journalisten lieferte er selbstgefällige Anekdoten und plakative Botschaften zur Ausschmückung ihrer Artikel. EIN MANN WILL LEBEN RETTEN, JEDE FLIESE EIN SCHICKSAL, EIN BECKEN VOLLER HOFFNUNG lauteten die Überschriften der Artikel, die wenig später in den Lokalblättern erschienen und Fintan Taggart als Mann mit einer Mission darstellten, als Retter, als Messias.

In allen Zeitungsberichten wurde noch einmal das tragische Schicksal des Jungen aus Portsalon heraufbeschworen, für den der Schwimmunterricht zu spät kam. Liam O’Donnell, einer aus Conor Lynchs ehemaligem Gefolge, der Mitläufer, der Wilbur damals täglich mit Daumen und Zeigefinger die Haut am Oberarm verdreht hatte, dass sie sich blau verfärbte, war bei einem Bootsausflug mit seinen Brüdern ertrunken. Die Klasse war zu seinem Begräbnis gegangen und hatte am Grab gesungen, Wilbur so laut und falsch, dass Miss Ferguson ihn mit einem strengen Blick zum Verstummen brachte.

Fintan Taggarts Ziel war es, den Kindern die Angst vor dem Ertrinken zu nehmen. Bei Wilbur löste er durch seinen Schwimmunterricht eine den Jungen bis in die Träume verfolgende Panik vor Wasser aus. Bevor Taggarts Tempel errichtet war, hatte Wilbur nichts gegen ein heißes Bad gehabt. Als Orla noch lebte, gab es für ihn kaum etwas Schöneres, als von Schaum umhüllt in der Wanne zu sitzen und Orlas Summen zu lauschen. Seit er bei den Conways war, gehörte das Baden zur täglichen Pflicht, und Wilbur begann nach einer Weile, das von Dampfschwaden erfüllte Badezimmer als den einzigen Ort im Haus zu schätzen, wo seine Pflegemutter ihn aus Gründen der Schicklichkeit alleine ließ. Erst in dem Becken, an dessen Boden die Namen der Ertrunkenen durch einen Film aus milchigem Wasser schimmerten, entwickelte Wilbur Todesangst. Unter dem Brüllen des Lehrers und dem Johlen der Mitschüler schaufelte er mit den Armen und schlug mit den Beinen, ein mickriges Hündchen, der schwächste Welpe aus dem Wurf, den man ertränkte.

Als Wilbur eines Tages, zu müde zum Kämpfen, an den Grund des Lochs sank, fühlte er die tiefere, kühlere Schicht des Todes an seiner Haut. Sein Trudeln und Strampeln über dem Grund dauerte nur einen schrecklichen Gedanken lang, dann lag er, von einem Zaun aus Beinen umgeben, am Rand des Beckens. Taggart holte ihn keuchend vor Anstrengung und Angst aus der Bewusstlosigkeit und befreite ihn vom Schwimmunterricht. Den Conways erklärte er, Wilbur reagiere allergisch auf das Chlor.

Um Wilburs Furcht vor dem Wasser zu bestrafen, trug Taggart ihm die Reinigung des Beckens auf. Alle zwei Wochen musste Wilbur die Fliesen mit Seifenlauge abschrubben und die Filterkörbe leeren. Taggart, der auch in der Freizeit in seinem roten Trainingsanzug herumlief, saß derweil im nahen Pub oder neben dem Ofen, in dem die Fliesen gebrannt worden waren und der jetzt als Heizung diente. Wilbur rutschte auf den Knien im glitschigen Film, der sich auf dem Beckenboden abgelagert hatte, und überlegte, wie einfach es gewesen wäre, zu sterben. Dann tauchte Taggart am Rand auf und trieb ihn zu schnellerem Arbeiten an, und Wilbur dachte an den Mann im Film und daran, wie leicht es sein mochte, jemanden zu töten.

Es war der letzte warme Herbsttag des Jahres, als Wilbur vor dem Haus des alten Mannes stand, die Hände in den Taschen und auf den Mut wartend, der nötig war, um anzuklopfen. Im Erdgeschoss brannte hinter den Vorhängen Licht, und manchmal glaubte Wilbur Schritte zu hören, das Schließen einer Tür oder das Knacken von Holz. Aus dem Schornstein trieb Rauch, der die Farbe der Torfbarren hatte, die im Kamin verbrannten. Ein leichter Wind zerzauste Wolken, unter denen Linien schwarzer Vögel zogen, weg aus diesem Land an einen Ort, wo es keinen Winter gab. Wilbur sah ihnen nach, und als die Tiere ins trübe Blau des Horizonts eintauchten und sich darin auflösten, hob Wilbur die Hand und klopfte an. Nach einer Weile öffnete der Alte und trat zur Seite, als habe er Wilbur erwartet.