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Ich bin seither noch ein paar Zentimeter gewachsen, bin jetzt eins zweiundsechzig, ohne Schuhe. Das ist drei Zentimeter kleiner als Roman Polanski, aber acht Zentimeter größer als Danny De Vito. Ich wachse jedes Jahr etwa einen halben Zentimeter, mal mehr, mal weniger. Rein theoretisch könnte ich in vierzig Jahren fast einen Meter achtzig messen. Aber dann bin ich alt und fange schon wieder an zu schrumpfen, also was soll’s. Der Winter ist meine Lieblingsjahreszeit, da kann ich in Moonboots mit dicken Sohlen rumlaufen und fünf Schichten Klamotten übereinander tragen, in denen ich nicht mehr aussehe, als könnte ein Lufthauch mich wegblasen.

Ich bin schläfrig, die Nacht war unruhig, zerstückelt von Träumen. In einem entfernten Flur brummt eine Poliermaschine. Rob macht Tai Chi, womit er mich kaum noch verblüfft. Er steht auf einem Bein und hält die Arme, als würde er einen unsichtbaren Bogen spannen. Er gehört zu den anderen. Er hat die Veranlagung zum perfekten Körperbau, zum maßlosen Glücklichsein. Schön für ihn, mein Kontingent an Neid ist aufgebraucht. Ich schließe die Augen.

Als Vermeer kommt, schrecke ich hoch und habe meine Sätze vergessen und auch den Gesichtsausdruck. Er sieht mich an, streckt mir die Hand entgegen und lächelt.

«Hallo, Will«, sagt er.

Ich ergreife seine Hand und lächle zurück, bin aber nicht sicher, ob es mir gelingt. Vermeer wartet, dann sieht er zu den beiden Pflegern. Rob sagt, ich hätte eben noch gesprochen, und Phil nickt. Vermeer legt mir die Hand auf die Schulter, öffnet die Tür und lässt mich in sein Büro eintreten. Er wechselt ein paar Worte mit Phil und Rob und schließt dann die Tür.

«Bitte, setzen Sie sich«, sagt er und wartet, bis ich in dem Sessel vor dem Schreibtisch Platz genommen habe. Dann setzt er sich ebenfalls, faltet die Hände auf der Tischplatte und sieht mich an.

Ich weiß, dass ich etwas sagen soll. Der Tisch, L-förmig und aus Stahl und dunklem Holz, ist überladen mit Aktenstößen, einem Notebook, Zetteln, Büchern, Heften, einer Schale mit Stiften, Büroklammern und anderem Kram, einem Bilderrahmen, dem Telefon und einem Stück Seil, das kunstvoll zu einer Henkersschlaufe geknotet ist. Als das Telefon klingelt, zucke ich zusammen. Vermeer sagt, er sei nicht zu sprechen. Das verleiht meinem Hiersein noch mehr Bedeutung, und als Vermeer aufgelegt hat, öffne ich den Mund.

«Ich möchte weg«, sage ich.

Ein Lächeln streicht über Vermeers Gesicht. Eine Weile sitzt er da, die Hände noch immer gefaltet. Ich frage mich, ob sich mit dem Strick jemand erhängt hat. Und falls ja, warum er auf Vermeers Tisch liegt, neben dem Telefon und einem Bild, das vermutlich seine Familie zeigt.

«Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr mich das mit Freude erfüllt«, sagt Vermeer schließlich.»Ich meine damit sowohl die Tatsache, dass Sie wieder sprechen, als auch Ihren Wunsch, uns zu verlassen.«

Ich nicke. Ich denke daran, nach meinem Koffer zu fragen, überlasse es dann aber Vermeer, meine Abreise zu organisieren. Es ist später Nachmittag, ich würde gerne noch eine Nacht hierbleiben und morgen ausgeruht los.

«Sie haben mein Vertrauen in Ihren Lebensmut nicht enttäuscht«, sagt Vermeer.»Die Entscheidung, Sie trotz Gefährdung in die Offene Abteilung zu verlegen, war unter meinen Kollegen nicht unumstritten, müssen Sie wissen. «Er lächelt mich an, dann klappt er sein Notebook auf. Ein Flaum aus blauem Licht legt sich auf seine Haut und wird weiß. Der Strick sieht neu aus, unbenutzt, und er ist kurz, misst vielleicht vierzig Zentimeter. Ziemlich unwahrscheinlich, dass er um den Hals eines Selbstmörders gelegen hat. Trotzdem würde ich gerne wissen, ob es sich dabei um ein makaberes Souvenir handelt, das Erinnerungsstück an einen besonderen Fall. Oder ob das Seil dazu da ist, ihn jeden Tag daran zu erinnern, mit welcher Art von Männern er es hier drin zu tun hat. Vermeer tippt etwas in das Notebook. Dass er den Strick für sich bereithält, schließe ich aus. Ob er ihn ab und zu umhängt, nur um zu sehen, wie es sich anfühlt? Und ob er dabei auf seinen Stuhl steigt?

«Ich kann mir vorstellen, dass Sie unsere Einrichtung so schnell wie möglich verlassen wollen«, sagt Vermeer und klappt das Notebook zu. Er lächelt wieder und faltet die Hände.»Trotzdem bitte ich Sie, noch eine Woche zu bleiben.«

Ich sehe ihn an. Die Bitte überrascht mich, ich stelle mir Engpässe bei der Aufnahme neuer Insassen vor, Abweisungen aufgrund von Überbelegung, Dutzende gescheiterter Selbstmörder, die auf ein freies Bett warten, einen Platz im Runden Zimmer, eine Nische zum Überleben.

«Am nächsten Freitag besucht uns eine Delegation aus Washington«, sagt Vermeer.»Vertreter eines Ausschusses, der über die Vergabe und die Verlängerung von Lizenzen für privat geführte Kliniken bestimmt. Es wird eine Besichtigung geben, Tischlerei, Schwimmbad, der Garten, vielleicht einen Spaziergang im Park. Am Schluss stelle ich mir ein Gespräch vor, die Leute des Ausschusses und zwei, drei Männer, die hier neue Kraft gefunden haben, neue Hoffnung. «Er sieht mich an, wartet. Seine rechte Hand liegt auf dem Strick. Ich stelle mir vor, wie er sich daran aufhängt, nachdem ich seine Bitte abgeschlagen und das Büro verlassen habe. Aber dann sehe ich, dass es keine Möglichkeit gibt, das Seil an der Decke zu befestigen.

«Ich weiß nicht«, sage ich. Eine Nacht wollte ich sowieso noch bleiben. Aber eine ganze Woche?

«Ich verstehe Ihre Vorbehalte«, sagt Vermeer. Er steht auf, den Strick lässt er liegen.»Erlauben Sie mir eine Frage. Was gedenken Sie draußen zu tun? Ich meine, was haben Sie für Pläne?«

Pläne, denke ich, Pläne habe ich keine. Mein Leben lang hatte ich noch keinen Plan. Ich habe Dinge getan, manche mit weitreichenden Folgen, aber keine meiner Handlungen war ausgedacht oder vorbereitet. Ich folge Impulsen, lasse mich treiben, reagiere. Ich bin ein Nichtschwimmer in einem zähen Fluss. Ich halte mich wahllos an Dingen fest, um nicht unterzugehen.

«Lassen Sie mich Ihnen einen Vorschlag unterbreiten«, sagt Vermeer. Er stützt die Hände auf den Tisch und sieht mich an.»Wenn Sie bleiben, werden wir Ihnen beim Neustart ein wenig unter die Arme greifen. Sagen wir, mit zweitausend Dollar.«

Vermeer weiß, dass ich pleite bin. Der Typ im Hotel hat ihm bestimmt erzählt, wie ich meine letzten Scheine hervorgekramt habe, um für das Zimmer zu bezahlen. Zweitausend Dollar würden mich eine ganze Weile über Wasser halten.

«Einverstanden?«fragt Vermeer und streckt mir die Hand entgegen.

Er lächelt. Er war nett zu mir. Er ist glücklich, weil er glaubt, mir das Leben gerettet zu haben. Ich schulde ihm etwas. Ich ergreife seine Hand.

«Unter einer Bedingung«, höre ich mich sagen. Der Satz ist mir rausgerutscht, ich wollte ihn nur denken, nicht aussprechen. Ich ziehe die Hand zurück und lege sie neben die andere in den Schoß.

«Ja?«Vermeers Lächeln ist durch nichts zu vertreiben. Er setzt sich hin und nimmt einen Stift in die Hand, als wolle er sich meine Forderung aufschreiben.

«Ich möchte das Bild sehen«, sage ich. Dabei deute ich mit einer Kopfbewegung auf den Rahmen neben dem Notebook.

Vermeer scheint völlig überrascht zu sein. Er sieht den Rahmen an, als würde ihm dessen Gegenwart zum ersten Mal seit langer Zeit wieder bewusst. Er legt den Stift hin und nimmt ihn in die Hand, betrachtet ihn. Dann gibt er ihn mir.