Im Monat darauf teilte Cynthia ihm telefonisch mit, sie sei schwanger. Matthew war am Boden zerstört. Er dachte daran, Cynthia seine Ersparnisse und das Haus zu überlassen und nach Frankreich zu gehen, wo ein ehemaliger Studienfreund ein Weingut betrieb. Dann dachte er an das Kind und daran, dass es ohne Vater aufwachsen würde. Er versuchte sich einzureden, dass er es besuchen würde, aber er wusste, dass es nicht dasselbe wäre. Also blieb er.
Cynthia war konservativ, aber verglichen mit ihren Eltern, die er bald kennenlernte, erschien sie Matthew wie die Verkörperung von Rebellion und Fortschritt. Als sie heirateten, war er einunddreißig, sie fünf Jahre jünger. Er war ein Virtuose auf dem Cello, aber er reiste nicht gerne, und so unterrichtete er, seit er zwanzig war, statt mit Symphonieorchestern durch die Welt zu ziehen. Sie besaß einen Ehrgeiz, der sich aus einem absurden Gefühl der Minderwertigkeit nährte. Wo ihr Intelligenz und Phantasie fehlten, behalf sie sich mit Verbissenheit. Sie glaubte an sozialen Aufstieg, beruflicher Erfolg war ihre Religion. Wenn der selbstauferlegte Druck zu groß und sie schwach wurde, was selten geschah, kam die Frau zum Vorschein, von der Matthew manchmal glaubte, er könne sie sehen, gut gepolstert hinter Disziplin und Stolz. Dann weinte sie ein bisschen und erzählte ihm von ihren Träumen, in denen tropische Wälder vorkamen, breite Ströme und ein Floß, dessen Stämme sie selber gefällt hatte. Dann wurde sie weich, und er tröstete sich mit dem Gedanken, sie vielleicht doch zu lieben, nicht so, wie seine Eltern sich geliebt hatten, aber immerhin genug, um mit ihr zu leben. Ihre Eltern reisten zur Hochzeit aus Manchester an, wo sie eine Kohlehandlung führten, übernachteten einmal im Hotel und schenkten dem Paar eine Waschmaschine.
Als der Junge zur Welt kam, wurde Matthew daran erinnert, was Glück war. Seine Fähigkeit zu lieben, die durch das Leben an Cynthias Seite verkümmert war, wuchs zu einem überwältigenden Gefühl, das ihn alle Bitterkeit und Reue vergessen ließ. Während Cynthia eine Weiterbildung zur Forstökonomin machte und abends und an den Wochenenden lernte, wie Wälder am gewinnträchtigsten bewirtschaftet wurden, gab Matthew seinen Beruf fast völlig auf und kümmerte sich um seinen Sohn. Er war ein hingebungsvoller Vater, obwohl er sich bis zu Williams Geburt nie ernsthaft überlegt hatte, ob er einer werden wolle, und falls ja, ob ihm die Aufgabe liegen würde. Er dachte, er würde das Unterrichten vermissen, die Studenten, seinen Raum in der Universität, den ganzen Betrieb, aber das war nicht der Fall.
Er spielte William auf dem Cello vor und entlockte dem Instrument Geräusche, derer er sich früher geschämt hätte, nur um den Jungen zum Glucksen zu bringen. Sie gingen spazieren, sahen sich im Zoo die seltsamsten Tiere an und lagen nebeneinander auf den Wiesen von Parks und formten die Wolken nach ihren Wünschen. Sie kauerten in Bächen und wendeten jeden Stein, um darunter Welten zu entdecken. Ein Teich wurde zum Ozean, den sie auf Papierschiffen überquerten, bei Regen saßen sie am Küchentisch und bauten aus Fundstücken eine Maschine, die Glück herstellte.
Als William vier Jahre alt war, zog die Familie nach London, wo Cynthia eine Stelle beim Umweltministerium erhalten hatte. Jetzt sah Matthew seine Frau überhaupt nicht mehr, und William blickte seinen Vater ratlos an, wenn der das Wort Mutter benutzte. Ein halbes Jahr später einigten sich Matthew und Cynthia darauf, eine Weile getrennt zu leben. Matthew und William fuhren zurück nach Norwich und wohnten von nun an mit einer alten Dame, der sie das Haus vermietet hatten, unter einem Dach. Eigentlich hatte Miss Baldwin vorgehabt, einen alleinstehenden Herrn als Wohngenossen zu finden, aber die neue Situation gefiel ihr noch besser. Sie war vierundsiebzig und blühte in der Gesellschaft der beiden Männer noch einmal richtig auf. Obwohl sie nie verheiratet gewesen war, liebte sie Kinder über alles. Wenn sie an zwei Nachmittagen in der Woche, an denen Matthew Unterricht gab, auf William aufpasste, wollte sie den Jungen am Abend gar nicht mehr hergeben.
Irgendwann war es zur Gewohnheit geworden, dass die drei gemeinsam aßen, im Park spazierten und sich im Radio Konzerte und Liveberichte von Fußballspielen anhörten. Miss Baldwin war Anhängerin des FC Norwich City, und bald saß das Trio bei jedem Heimspiel im Stadion. Im Gegenzug brachte Matthew ihr die Welt der klassischen Musik näher, spielte ihr auf dem Cello vor, schenkte ihr Schallplatten und lud sie zu Konzerten ein. Es war ihm egal, was die Nachbarn von ihm dachten, und wenn er Agnes einmal pro Woche zum Essen ausführte, sollten die Leute eben denken, sie sei seine Mutter. An diesen Abenden engagierte er eine Babysitterin für William, eine junge Frau, der er das Cellospiel beibrachte und die dem Jungen Kostüme schneiderte, Peter Pan, Prinz Eisenherz, Buffalo Bill.
Alle zwei Monate setzten sich Matthew und William in den Zug und fuhren nach London, um ein paar Stunden mit einer Frau zu verbringen, die auf dem Papier Matthews Gattin und biologisch gesehen Williams Mutter war. Alles in Cynthias Leben fand zwischen Tür und Angel statt, zwischen Lunch und Dinner, einem Meeting und dem nächsten. Sie überhäufte ihren Sohn mit Geschenken, lauter Dingen, mit denen der Junge nichts anzufangen wusste, und zeigte ihm Prospekte von Privatschulen, als deren Schüler sie ihn bereits sah. William versprach, die Unterlagen zu studieren und eine Liste mit seinen Favoriten anzulegen. Zu Hause in Norwich landeten die Hochglanzbroschüren im Abfall, denn der Junge hatte sich längst für eine Karriere als Profifußballer oder Höhlenforscher entschieden. Matthew wollte nicht mit seiner Frau streiten und sagte ihr deshalb nicht, für wie unsinnig er es hielt, einen Fünfjährigen mit der Planung seiner Zukunft zu behelligen.
In den Londoner Nächten arbeitete Cynthia an Matthew etwas ab, das sie als ihre Pflicht betrachtete und dessen technische Ausführung sie in Büchern nachgeschlagen hatte, als handle es sich dabei um Anleitungen zur Bepflanzung von Steilhängen oder den Schutz von Jungwuchs vor Wildverbiss. Zum Geschlechtsverkehr im eigentlichen Sinn kam es dabei nicht, denn Cynthia wollte kein zweites Mal das Risiko eingehen, schwanger zu werden. Hatte Matthew zu Beginn noch voller Staunen und in einer Mischung aus gestauter Lust und Masochismus auf die neu erworbenen Fertigkeiten seiner Frau reagiert, so wehrte er sich schon bald gegen die immer hastiger und unsinnlicher ausgeführten Zuwendungen, indem er sich einfach umdrehte und tat, als schlafe er. Cynthia schien ein wenig enttäuscht zu sein, aber auch erlöst. Jedenfalls ließ sie ihn in Ruhe, und beim nächsten Besuch schlief sie in ihrem Bürozimmer.
Es war während eines dieser Kurzaufenthalte in London, als die Welt aufhörte, sich zu drehen. William war sechs Jahre alt und der hellste Stern in Matthews Universum. Er hatte die schwachen Augen seines Vaters geerbt, aber auch dessen kräftigen Körperbau und die dunkelbraunen Locken. Der Junge konnte einfache Stücke auf dem Cello spielen, freihändig Fahrrad fahren und einen flachen Stein ein Dutzend Mal über das Wasser hüpfen lassen. Er wusste, wie eine Amsel sang und wie eine Meise, kannte alle Spieler des FC Norwich City, zeichnete Pferde, die als solche zu erkennen waren, und mähte den Rasen vor dem Haus zwei Minuten und elf Sekunden schneller als sein Vater.
Sie besichtigten eine Privatschule im Westen der Stadt, Cynthia hatte darauf bestanden. Es war Ferienzeit, und mehrere Eltern kamen mit ihren Kindern, um sich die leerstehenden, deshalb aber nicht minder imposanten Gebäude zeigen zu lassen. Eine Frau in einem dunkelgrauen Kleid führte sie durch Schlafsäle und Turnhallen, Unterrichtsräume und endlose Flure. Sie sahen in eine Kapelle, eine Küche und eine düstere Bibliothek. Matthew hielt seinen Sohn die ganze Zeit an der Hand, während Cynthia die grau gekleidete Frau mit Fragen überhäufte.
Am nächsten Morgen hatte William Kopfschmerzen und leichtes Fieber, das in der Nacht höher wurde. Im ersten Tageslicht eilte Matthew los, um bei einer Notfallapotheke Medikamente zu besorgen, und als er zurückkam, saß Cynthia schluchzend auf Williams Bett und versuchte den apathischen Jungen anzukleiden. Das Sekretariat der Privatschule hatte angerufen und ihr mitgeteilt, vier Kinder, die am Besichtigungstermin teilgenommen hatten, lägen mit Hirnhautentzündung im Krankenhaus.