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Wilbur wurde nicht Matthews Sohn, auch nicht sein Enkel. Er nahm keinen Platz ein, füllte keine Lücke aus. Er war ein Junge, der vorbeikam, ein Besucher, der das Cellospiel lernte. Nicht die Sehnsucht nach einem toten Kind linderte er, sondern den Schmerz des Alleinseins. Er liebte das Cello, das kleiner war als das von Matthew, geeignet für seine winzigen Hände und kurzen Finger, die nach den ersten Stunden voller Blasen waren. Beim Spielen legte er manchmal die Wange an das Instrument und ließ das Summen, das jetzt greifbar schien, in seinen Kopf strömen. Matthew wies ihn nicht zurecht, er lächelte und spürte die Schwingungen an der eigenen Haut. Wilbur war eine Batterie, die sich durch die Töne des Cellos speiste, und je voller und energiegeladener er wurde, desto leuchtender geriet sein Spiel. Der Umgang mit dem Instrument kam ihm nicht wie Lernen vor, vielmehr schien es ihm, als würde er sich an Fähigkeiten erinnern, die er einmal besessen hatte. Es war, als löse jede Tonfolge eine neue Schicht des Erinnerns, unter der eine längst beherrschte Fertigkeit lag, als sei jeder Griff und jeder Zug des Bogens die Seite eines Buches, in dem er zurückblätterte.

Wenn er spielte, war er sich nicht bewusst, dass er eine Abfolge von Bewegungen ausführte, die ein Ziel verfolgten, weil er das Ziel erst erkannte, wenn es sich als gefundener Klang im Raum ausbreitete. Er holte einfach Töne aus dem Holzbauch heraus und spielte sie so lange falsch, bis sie es nicht mehr waren. Dabei entstand eine endlose, monotone Melodie, deren Schieflage sich derart langsam dem gesuchten Ton entgegenneigte, dass jemand, der nur eine Weile zuhörte, keinen Fortschritt hätte erkennen können. Matthew fühlte sich an sein altes Radio erinnert, dessen Skalenregler er oft minutenlang drehte, bis er die klaren Signale eines Senders fand. Das Cello war Wilburs Radio, auf dem er Töne suchte und Klänge fand und auf Bruchstücke stieß, Akkorde, die sich zu Melodien formten und irgendwann zu Musik.

Manchmal saßen Matthew und Wilbur einen ganzen Nachmittag lang da und hörten Schallplatten, oft dieselbe immer und immer wieder. Oder Wilbur lernte Notenlesen. Matthew erklärte ihm eines Tages das Grundprinzip, danach blieb dem alten Mann nur noch Staunen. War Wilburs Gehirn in der Schule ein Schwamm, der sich wie von selbst mit Wissen vollsog, dann war es jetzt ein riesiger Planet, der fiebrig glühend kreiste und jede Information anzog und seiner Masse einverleibte.

In seinem Zimmer schrieb Wilbur Sonaten ab, ganze Symphonien. Vor dem Einschlafen summte er das am Tag Gehörte, nach dem Aufwachen pfiff er, was er später spielen würde. Pauline fand, ihr Pflegesohn übertreibe es mit der Begeisterung für Musik ein wenig, aber sie kannte Matthew Fitzgerald, und obwohl er kein Katholik, ja nicht einmal Protestant war, teilte sie die Ansicht der Leute im Ort, er sei ein anständiger Mann.

Als Wilbur immer öfter bis zum Abend verschwunden war, hatte sie ihn zur Rede gestellt, und Wilbur hatte ihr von den Cellolektionen erzählt. Wenig später waren Pauline und Henry zu Gast bei Matthew und überzeugten sich davon, dass der alte Mann dem Jungen beibrachte, ein Instrument zu spielen. Es gab Tee und Gebäck, und Wilbur setzte ein paar Töne aneinander, die entfernt an eine Melodie erinnerten. Matthew trug seinen besten Anzug und versprach den Conways beim Abschied, bis Weihnachten könne Wilbur auf dem Cello Stille Nacht spielen. Pauline war von dieser Aussicht begeistert und malte sich bereits aus, wie der dank ihres Einflusses wohlgeratene Ziehsohn beim Gottesdienst die Gemeinde in Beifallsstürme ausbrechen ließ.

Henry meinte, der magere Junge solle sich neben der Musik auch dem Sport widmen und Gaelic Football oder Hurling spielen, aber damit fand er weder bei Wilbur noch seiner Frau Gehör. Wilbur hasste jede Form von Sport oder sogenannten Spielen, bei denen es um Körperkraft und deren brutalen Einsatz ging, und seit Fintan Taggart sein Turnlehrer war, hatte sich sein Widerwillen noch verstärkt. Pauline teilte Wilburs Abscheu gegenüber roher, als Wettkampf getarnter Gewalt, doch stieß sie sich vielmehr an der Tatsache, dass die muskulösen, verschwitzten Leiber der Burschen bei den jungen Zuschauerinnen unzüchtige Gedanken auslösten. Zudem gefiel ihr die Vorstellung, Wilbur im Bekanntenkreis bald als Hausmusikanten ankündigen zu können, ausnehmend gut, und sie wollte nicht, dass dieser zukünftigen Attraktion ein zum Cellospiel benötigter Finger gebrochen wurde.

Ein halbes Jahr später spielte Wilbur in der Kirche Stille Nacht, wie Matthew Fitzgerald es versprochen hatte, und alle Anwesenden waren sich darin einig, dass Gott mit diesem talentierten Jungen Großes vorhatte.

7

Zwei Tage vor dem Besuch der Delegation hat Vermeer mich zu sich gebeten. Er ist mit mir den Ablauf des Treffens durchgegangen und hat mich auf Fragen vorbereitet, die aller Wahrscheinlichkeit nach von den Abgeordneten gestellt werden. Er bat mich, ehrlich zu sein und nicht etwa einen Lobgesang auf die Offene Abteilung oder gar die gesamte Institution anzustimmen. Die Männer und Frauen des Ausschusses seien Experten und würden sofort erkennen, wenn ihnen etwas vorgemacht würde. Ich hörte Vermeer zu und gab ein paar Probeantworten auf Probefragen. Er meinte, ich solle keine wissenschaftlichen Ausdrücke verwenden und nicht erwähnen, dass es mir gelungen war, einen Spiegel zu zertrümmern und mich in den Besitz eines Bademantelgürtels zu bringen.

Ich versprach es ihm, nachdem ich den Gedanken, ihm alles zu gestehen, verworfen hatte. Vermeer war beinahe rührend in seinem Stolz auf uns beide. Auf mich, weil ich bald den Schritt zurück in die Gesellschaft schaffen würde, auf sich selbst, weil er mir den Raum und die Ruhe gegeben hatte, um diesen Schritt vorzubereiten. Ich wollte ihn nicht enttäuschen, also schwieg ich. Vermeer bedankte sich und gab mir einen Scheck über eintausend Dollar, die Hälfte der vereinbarten Summe, meines Startkapitals für draußen. Er verstand es als Vorschuss und Vertrauensbeweis, vermutlich auch als Motivationshilfe. Ich nahm den Scheck, wir schüttelten uns die Hände, und ich ging zurück in mein Zimmer.

Ich habe Aimee einen Brief geschrieben. Ich werde sie nicht wiedersehen und will nicht, dass sie glaubt, ich würde sie hassen. Ich habe sie ein paar Tage lang gehasst, aber das ist vorbei. Die Worte kommen nicht von alleine, an jedem Satz sitze ich eine Ewigkeit. Ich schreibe nicht, dass ich sie liebe, das wäre falsch. Falsch, weil ich nicht weiß, ob es stimmt, und weil es nichts bringen würde. Ich haue morgen hier ab und habe nicht vor, noch einmal vorbeizuschauen. Der Brief besteht aus durchgestrichenen Wörtern, aus Umformulierungen und Präzisierungen. Er sagt etwas, das ich loswerden will, ohne mich schutzlos zu machen. Er ist nicht kalt und nicht gefühlsduselig, weder leidenschaftlich noch ganz ohne Regung. Er ist sachlich, ein nüchterner Abschied.

Ich schreibe die Sätze in sauberer Schrift auf ein neues Blatt, falte es zusammen und stecke es in einen Umschlag, auf den ich ihren Namen setze. Den Umschlag lege ich unter mein Kopfkissen. Es gibt eine Regel hier drin, die besagt, dass dein Kopfkissen tabu ist, und was darunter ist, ebenfalls. Zumindest hat Melvin mir das erzählt, aber vielleicht hat er das auch bloß getan, damit ich seine Pantoffeln in Ruhe lasse.

Den Rest des Morgens sehe ich Melvin und Sydney beim Damespielen zu. Melvin erzählt, Stan sei von der Krankenstation in die Beobachtungsstation verlegt worden. Ich bitte ihn, Grüße von mir auszurichten. Melvin sieht mich an. Vielleicht weiß er, dass ich gehe. Er lächelt und nickt und stellt seine Steine neu auf. Sydney gewinnt jede Partie, aber das scheint Melvin nicht zu stören. Die Mütze auf seinem Kopf heißt Kippah oder auch Schabbes, ich habe im Lexikon nachgeschlagen.