Am Nachmittag gehe ich noch einmal durch die ganze Abteilung. Ich erzähle keinem, dass ich morgen verschwinden werde, aber ich schaue bei allen rein und halte einen kurzen Schwatz, sofern es der Zustand der Männer erlaubt. Rodrigo, zum Beispiel, ist heute noch schlechter gelaunt als üblich. Er wirft mir irgendetwas Spanisches an den Kopf und verzieht sich in die Raucherkabine. Ho freut sich über das Interesse, das ich für sein Dorf aus Streichholzhäusern vortäusche. Roger drückt mir einen weiteren Ordner in die Hand, und ich verspreche, ihn zu lesen. Ich spiele eine Runde Billard, oder was immer es ist, mit Raymond und Elroy. Sie erzählen mir, dass Edward Kanonenfutter Carson nicht mehr hier ist. Seine Eltern haben ihn am Morgen abgeholt. Ich lasse die Kugel an einem Keksstapel vorbeirollen und treffe die Untertasse, was mich zum Sieger der Partie macht. Zwei Neue werden mir vorgestellt, Lester und Fred, beide um die fünfzig, schüchtern und wortkarg. Sie wissen, dass wir wissen, weshalb sie hier sind. Es ist ihnen peinlich, und sie stehen da wie Schuljungen, die beim Onanieren erwischt wurden.
Ich frage mich, wo all diese Männer herkommen, ob sie im ganzen Land eingesammelt und hierher verfrachtet werden, und warum es ihnen nicht gelungen ist, sich umzubringen, oder ob sie es darauf angelegt haben, gefunden und gerettet zu werden. Lester und Fred sahen jedenfalls ziemlich unversehrt aus und nicht wie Typen, die den Mumm haben, sich vor eine Lokomotive zu werfen oder eine Kugel in den Kopf zu jagen. Vielleicht haben sie an ihrem Geburtstag Tabletten geschluckt oder auf einem öffentlichen Parkplatz die Abgase ihrer Autos eingeatmet, oder sie standen auf dem Fenstersims ihres Büros im siebzehnten Stock und warteten auf den Psychologen, der sie zum Weiterleben überreden würde. Vielleicht wollten sie sich tatsächlich das Leben nehmen und hatten Glück. Oder Pech.
Elroy schlägt eine weitere Partie Dadaistenpool vor, aber Sam kommt über den Flur und reißt mich aus diesem Stelldichein der Verlorenen und beinahe Wiedergefundenen und zieht mich am Arm fort. Obwohl ich nicht unglücklich bin über seine Fluchthilfe, will ich wissen, was los ist. Er sagt, jetzt, wo ich wieder alle Tassen im Schrank habe, könne ich endlich seine Petition gegen die verdammten Ziegen unterschreiben. Außerdem müsse ich ihm in der Tischlerei helfen.
«Die erste Bank ist fertig«, sagt er.»Und du darfst helfen, sie rauszutragen. «Er lässt meinen Arm los, und wir gehen nebeneinander die Treppe hinunter.
Erst will ich fragen, warum er ausgerechnet mir diese Ehre zuteil werden lässt, aber dann ist es mir egal. Ich bin auf Abschiedstour, also verbringe ich ein paar Minuten mit Sam und tue ihm einen Gefallen. Wir betreten die Halle, in der es nach Holz und Harz und Lösungsmitteln riecht. Lefty und der alte Mann, dessen Namen ich noch immer nicht kenne, sitzen auf der fertigen Bank und essen Brote. Als sie Sam sehen, stehen sie auf und wischen hastig ein paar Krümel von der Sitzfläche.
Ein großer hagerer Mann mit krummem Rücken, Melvin zufolge ein Abtrünniger von Amischen aus Ohio, der die Tischlerei leitet, sägt im hinteren Teil der Halle Holz auf einer Maschine. Zwei Pfleger spielen an einem Tisch beim Eingang Schach und überzeugen sich gelegentlich davon, dass sich keiner der Männer mit einem scharfen oder spitzen Werkzeug das Leben zu nehmen versucht. An einer Schnur hängt ein Käfig von einem Stahlträger, in dem ein gelber Kanarienvogel sitzt, der sich erst auf den zweiten Blick als ausgestopft entpuppt.
Ich folge Sam zu einer Werkbank und unterschreibe die Petition mit Wilbur McDermott. Das Blatt ist fleckig und zerknittert, meine Unterschrift die vierte. Sam führt mich zu der Bank und wartet auf mein Urteil. Wir stehen da wie zwei Galeriebesucher vor einer Skulptur. Die Bank ist aus schwarzem Gusseisen und grün lasiertem Holz. Vier Leute haben auf ihr Platz. Ich könnte mich darauf ausstrecken, ein normal gewachsener Mann müsste dabei die Füße auf die Armlehne legen. Die Maserung ist durch die Lasur zu erkennen, das gefällt mir.
«Die Eisenteile sind vom Schrottplatz«, sagt Sam.
Ich nicke. Vermutlich erwartet er, dass ich Interesse für diese Teile zeige, also gehe ich in die Hocke und sehe sie mir genauer an. Die Füße sind Tierpfoten nachempfunden, von denen Ranken mit Blüten und Blättern emporwachsen.
«Schön«, sage ich. Mehr fällt mir zu einer Gartenbank nicht ein.
Eine Weile stehen wir noch da, dann tragen Sam und ich die Bank nach draußen und stellen sie auf der Wiese unter ein paar Bäume. Sam ist erst zufrieden, nachdem wir sie dreimal verschoben haben. Lefty und der Alte kommen mit ihren Broten und sehen sich ihr Werk zufrieden kauend an. Der Alte stellt sich mir als Mitch vor. Er hat weißes Haar und so blaue Augen, dass ich den Blick senke, als wäre die Farbe ein Makel, eine Entstellung. Er gibt mir die Hand, an der Mayonnaise klebt. Lefty schlägt vor, ein paar Steinplatten unter die Bank zu legen, aber Sam will davon nichts wissen. Er poliert die Bank mit einem Tuch und klatscht in die Hände, worauf ein paar Vögel aus den Bäumen flattern.
Zu viert stehen wir da und betrachten stumm die Bank. Als der Leiter der Tischlerei nach Sam ruft, gehen die drei zurück. Ich sage ihnen, ich wolle noch eine Weile hier draußen bleiben, und setze mich hin. Ich überlege, ob ich Sam hinterherrufen soll, die Bank sei bequem, aber dann lasse ich es. Der Himmel ist leergeräumt. Ein unregelmäßiges Muster aus farblosen Schlieren krümmt sich über mir, eine schmutzige Glaskuppel. Zu meinen Füßen laufen Käfer, polierte schwarze Knöpfe, die durch die Grashalme kollern. Ich frage mich, ob ich das alles hier vermissen werde, und weiß die Antwort nicht. Vermeer hat mir Ratschläge gegeben, wie ich mein Leben in den Griff kriege, gutgemeinte Tipps, etwas mit mir anzufangen. Ich habe geduldig zugehört und ihm Floskeln über Jugend und offene Türen verziehen, habe genickt und mir sogar die Broschüre eingesteckt, die er mir gab. Darin steht, wie man es anstellt, draußen wieder Fuß zu fassen und mit seinen Problemen umzugehen. Auf der letzten Seite sind ein paar Psychologen, Therapeuten und Einrichtungen aufgelistet, an die man sich wenden kann, sollte man trotz Broschüre nicht weiterwissen.
Ich lege mich auf die Bank. Ich denke daran, wie ich morgen mit meinem Koffer hier rausgehe, und mir fällt ein, dass ich keine Ahnung habe, wo ich eigentlich bin. Melvin hat mal einen Ort namens Liberty erwähnt, irgendwo nordwestlich von New York, aber für mich klang das wie ein Kaff in Namibia. Das Hotel war in Brooklyn, das weiß ich noch. Wenn ich mir vorstelle, dorthin zurückzugehen, wird mir ziemlich flau. Aber ich bilde mir ein, die Absteige würde mir helfen, mich daran zu erinnern, was ich am Meer verloren hatte. Ich weiß, dass einem Dinge wieder einfallen, wenn man bestimmte Orte von früher aufsucht. Man betritt eine Stadt, ein Haus, einen Raum, und die Erinnerung blendet einen. Man schließt die Augen und sieht Bilder, es ist wie die Flashbacks in Filmen, kurze Szenen, die auf der Leinwand des Unterbewusstseins leuchten.
Ich weiß, wovon ich rede, mein Leben ist ein Flickenteppich aus Erinnerungsfetzen. Alles, was ich bisher getan habe, hatte mit meiner Vergangenheit zu tun. Ich habe sie gesucht, habe sie verdrängt, habe darin gelebt und sie verleugnet, habe mich mit ihr getröstet und versöhnt und habe sie verflucht. Manchmal kommt es mir vor, als würde ich für jeden Schritt, den ich nach vorne mache, zwei zurück gehen. Ich bin zwanzig Jahre alt. Ich wurde mit Mängeln ausgeliefert. Ich bin ein Wunderkind.
Ich bin ein Leuchtturm, mein Licht streift über das Land und über das Meer. Möwen kreisen unter den Wolken. Im fernen Reich des Ozeans ziehen Fische und ahnen nichts von der Sonne. Ich sitze neben Conor und nenne ihre Namen. Pottwal. Narwal. Buckelwal. Conor sagt Barrakuda und Bonito und Manta. Der Wind riecht nach Lakritze. Unsere dumme Sehnsucht schleppt ein Schiff den Horizont entlang. Chile, Feuerland, Tahiti. Es wird dunkel, Orla ruft nach mir. Der Revolver fühlt sich kalt an in meiner Hand, in meinem Mund.