Ich wache auf, ein kühler Wind streicht über mich hinweg. Ich spüre das Holz unter mir, die rechte Hand, zwischen Hinterkopf und Bank geraten, ist taub. Hat mich die Stille geweckt? Ich setze mich auf. Der Himmel ist keine Kuppel mehr, er ist eine Zimmerdecke, darin blühen Wolken, Ornamente wie Wasserflecken. Aus der Sicht der Käfer bin ich ein Riese. Ich trete aus dem Schatten der Baumgruppe, gehe ein paar Schritte und schüttle den Arm und die Hand, die daran hängt. Ich kopiere Rons Übungen, aber es ist unpassend und lächerlich, also höre ich auf. Die Stille war die Stille vor dem Regen, jetzt geht ein feiner Schauer nieder, er trommelt leise in den Blättern. Der Rasen knistert, die Erde ist Brausepulver. Ich gehe durch den Birkenwald, den Gedanken, ins Trockene zu fliehen, habe ich verworfen. Der Grund ist weich, in Vertiefungen schmatzen meine Schuhe. Aus dem Nieselregen wird ein heftiger Niederschlag, schwere Tropfen klatschen durch die Äste der Birken, Blätter kreiseln zu Boden. Der Lärm gefällt mir, er übertönt meine Gedanken. Ich ziehe das Hemd über den Kopf und gehe gebückt durch das Prasseln und Klopfen.
Das Gartenhaus ist so plötzlich da, dass ich beinahe mit dem Kopf dagegen stoße. Der Himmel ist ein Meer, das zur Erde stürzt, der Boden tanzt unter dem Aufprall. Ich öffne die Tür und hebe den Kopf, und es ist wie ein Traum, eine Wiederholung, ein schlechter Witz, einmal zu oft erzählt. Sie steht da, und die Hand des Mannes liegt auf ihrer Brust, es ist Lester oder Fred oder irgendein Neuer, ich weiß es nicht. Das Bild ist eine Inszenierung, der Regen fällt in Wirklichkeit aus Eimern, ich triefe um der Dramatik willen. Aimee sieht mich an. Langsam sinkt die Hand des Mannes, es ist das Zeichen für den Regen, mich in Grund und Boden zu schwemmen. Ich trage den Brief nicht bei mir, und trotzdem zerfließt die Schrift, aus Linien werden Flecken, und zuletzt ist das Blatt blau und gewellt und lesbar wie ein See, Wasserworte. Lester oder Fred sagt etwas, das im Rauschen und Hämmern untergeht. Aimee schlüpft in den Pullover, den sie die ganze Zeit in der Hand gehalten hat, und nimmt dem Mann den Büstenhalter aus der Hand. Lester oder Fred steht so dumm da wie ich. Aimee streicht sich eine Strähne aus der Stirn. Wasser läuft mir über das Gesicht. Ich denke an meinen Trinkhalm, eine Sekunde nur, dann drehe ich mich um und gehe.
Es ist ganz einfach, die Stadt der Selbstmörder zu verlassen. Man braucht keinen Plan, keine Entlassungspapiere, keinen Stempel. Ich gehe durch den Park zur Gärtnerei, wo alle in den Gewächshäusern auf das Ende des Regens warten. Ich klettere auf einen Lastwagen und setze mich zwischen die Kisten mit Tomaten. Ich sehe in den Himmel, der mir ins Gesicht schlägt, ich zittere, es ist kalt. Dann fahren wir los. Ich lege mich hin, damit der Wind mich nicht trifft. Wir schwimmen auf der Straße, einem schwarzen Fluss. Der Himmel ist so tief, dass meine Mutter mir die Hand reichen könnte. Der Lastwagen schaukelt, und ich schließe die Augen.
Liebe Aimee. Ich habe diesen Brief unter mein Kopfkissen gelegt und hoffe, dass er Dich erreicht. Wenn Du ihn liest, bin ich weg. Ich werde versuchen, draußen zurechtzukommen. Wird schon irgendwie klappen. Ich möchte, dass Du weißt, dass ich Dir nicht böse bin. Eine Zeitlang war ich es, aber das ist jetzt vorbei. Ich weiß nicht, was Du von mir wolltest; jedenfalls war es nicht das, was ich von Dir wollte. Dass ich mich hier drin erholen konnte (wovon genau, werde ich versuchen herauszufinden), verdanke ich trotz allem auch Dir. Ich bilde mir ein, mir wünschen zu müssen, wir hätten uns unter anderen Umständen kennengelernt, im Central Park oder auf einem Flohmarkt, irgendwo, nur nicht hier. Aber dann wird mir bewusst, dass Du außerhalb dieser Einrichtung vermutlich keinerlei Notiz von mir genommen hättest. Hier drin war ich Dein Patient, Dein Job. Ich war Dir zugeteilt, Du hattest gar keine andere Wahl, als mich wahrzunehmen. Dass Dein Interesse an mir anderer als beruflicher Natur sein könnte, kann ich mir nicht vorstellen. Warum Du meine Hand auf Deine nackte Brust gelegt hast, wird mir für immer ein Rätsel sein. Ich hätte Dich gerne noch gefragt, wie Du zu Deiner Narbe gekommen bist, den liegenden Halbmond auf Deiner Wange. Auch das werde ich wohl nie erfahren. Ich hoffe, Du wirst irgendwann diese Stadt verlassen. Sie ist kein Ort, an dem man lange bleiben sollte. Alles Gute, Will.
North, 1994
Als Wilbur zum ersten Mal vom Mooread-Stipendium für junge Musiker hörte, wusste er nicht, was er davon halten sollte. Matthew zeigte ihm ein Dossier mit Zeitungsausschnitten, einer Broschüre und Bewerbungsformularen. Sie saßen am Tisch, im Hintergrund lief Dvořáks Konzert für Cello und Orchester in h-Moll, und es gab Tee und Kekse, die Pauline Conway gebacken hatte. Die Broschüre war edel, auf ihrem Umschlag prangte ein Wappen, ein Schild mit vier trompetenähnlichen Instrumenten, zu beiden Seiten gehalten von sich aufbäumenden Einhörnern, darunter stand in schattierten Großbuchstaben MOORHEAD FOUNDATION und das Gründungsjahr, 1911. Die erste Seite zeigte den Gründer der Stiftung, Geofrey T. Moorhead, einen ernst in die Kamera blickenden Mann mit Schnurrbart und Stehkragen, der umständlich eine Geige samt Bogen und ein Notenheft in den Händen hält. Auf den nächsten Seiten waren die Mitglieder des Auswahlgremiums abgebildet, Männer und Frauen in fortgeschrittenem Alter, Musiker, Komponisten, Dirigenten. Eine berühmte Opernsängerin war dabei, die zu Beginn ihrer Laufbahn Moorhead-Stipendiatin gewesen war und in einem kurzen Text ihre Dankbarkeit für die großzügige Förderung zum Ausdruck brachte.
Matthew ließ Wilbur in Ruhe alles lesen. Er wusste, dass der Junge eine Begabung hatte, wie man ihr nur selten begegnete. Mit vierzehn spielte er, wie außerordentlich talentierte Achtzehnjährige spielten, mit zwanzig würde er gestandene Cellisten wie Anfänger aussehen lassen. Wilbur lernte nicht Cello spielen, das Instrument war ein lebendiges Wesen, ein Zwillingsgeschöpf, das dem Jungen mit Klängen in Fleisch und Blut überging, ihn mit Tönen besetzte, zurückeroberte. Es füllte Räume in ihm und ließ ihn von innen leuchten.
Matthew wusste von Wilburs Mutter und Orla, aber er konnte nur ahnen, was diese Ereignisse mit dem Jungen gemacht hatten. Er selber war erwachsen gewesen, als seine Eltern starben, und ein Mann, als ihm das Kind genommen wurde. Er hatte gelitten und war darüber hinweggekommen. Er hatte im Kreis von Agnes und Stuart und einem Haufen herrenloser Hunde mit dem Schicksal einen wackligen Frieden geschlossen und seither auf neue Schläge gewartet, die jedoch ausgeblieben waren. Der Schmerz war noch da, aber im Lauf der Zeit zu einem melancho lischen Phantasieren und wehmütigem Heraufbeschwören von Bildern eines erwachsenen William geraten, zu stummen Zwiegesprächen und entrückten Nachmittagen über Fotos und Kinderzeichnungen. Matthew war nicht wunschlos glücklich, aber weit entfernt von Hoffnungslosigkeit. Er lebte, er hörte Musik und las Bücher, und er hatte Wilbur, auch wenn er den Jungen nur als Leihgabe des Himmels betrachtete.
Er hatte sich vorgenommen, seinen Freund ein Stück weit zu begleiten und ihn dann gehen zu lassen. Dass der Abschied möglicherweise näher rücken würde, wenn er in Wilbur den Ehrgeiz weckte, ein Moorhead-Stipendium zu erhalten, war ihm bewusst. Es fiel ihm schwer, sich an die Zeit vor Wilburs Auftauchen zu erinnern, und die Vorstellung, die kommenden Jahre ohne ihn verbringen zu müssen, löste Bestürzung bei ihm aus und Angst vor erneuter Einsamkeit. Trotzdem zeigte er Wilbur die Unterlagen. Die Gewissheit, dass Wilburs Talent der Welt gehörte, bewegte ihn dazu. Das und Stolz und grenzenlose Liebe.
Wilbur und das Cello waren jetzt seit fast zwei Jahren ein Paar. Er liebte dieses Instrument, und wenn er spielte, verschwand er in dessen hölzernem Bauch. Die Griffe, die Fingerbewegungen am Brett, der Druck auf die Saiten, die Züge des Bogens, alles hatte sich in den vergangenen Monaten wie von selbst ergeben. Alles hatte sich zusammengefügt, die Teile ergaben jetzt ein Bild, in dem er sich erkannte, ein verborgenes Lächeln im Gesicht. Zu bestimmen, wie gut er war, fiel ihm schwer. Er hatte die Schallplatten, verglich sein Spiel mit dem Gehörten und verließ sich auf Matthews Urteil. Den Ansprüchen einer Jury zu genügen erschien ihm dennoch äußerst unwahrscheinlich. Trotzdem füllte er die Fragebögen aus, überzeugt, nicht angenommen zu werden, und im Glauben, Matthew Fitzgerald etwas schuldig zu sein.