Beim Abendessen erzählte Henry seiner Frau, wie erstaunt, ja erschrocken Colm gewesen sei, als sie den Fernseher aus der Kiste gehoben hatten. Erst habe er sich gegen Wilburs Geschenk gewehrt, aber dann hätten sie das Gerät angeschlossen und eingeschaltet, und als, wie zum Beweis für die Gutartigkeit des Kastens, eine Natursendung auf dem Bildschirm erschienen sei, habe Colm sich brav in seinen Sessel gesetzt und staunend verfolgt, wie die Tiere aus seinen Büchern plötzlich laufen lernten.
Pauline, von der Geschichte mehr überrascht als gerührt, meinte, so eine gottgefällige Tat habe sie Wilbur nicht zugetraut. Dann gab es Torte zum Nachtisch, und Pauline bot Wilbur aus einer großzügigen Laune heraus an, später mit ihnen Fair City anzusehen. Henry schien seinen Ohren nicht zu trauen und sah Pauline an, als habe sie dem Jungen gerade einen Flug zum Mars in Aussicht gestellt und nicht eine halbe Stunde irischer Soap. Zur Überraschung beider verzichtete Wilbur auf das zweifelhafte Vergnügen und ging nach oben, um in der Stille seines Zimmers ein kurzes Stück für Cello zu schreiben.
Etwas stach Wilbur ins Bein, und er zog einen Strohhalm aus der Hosentasche. Der Rest lag in einer kleinen Schachtel in einer Schublade von Colms Kommode. Während Wilbur die Noten einer Melodie hinschrieb, die zwischen Traurigkeit und Hoffnung schwankte, stellte er sich Colm vor, wie er die Schachtel hervorholte und seine Nase hineinsteckte und sich an ein Leben erinnerte, das zu Ende war, während der Fernseher keine Tiere mehr zeigte, sondern die Raserei der Welt.
Eamon McDermott war im Schlaf gestorben, aus dem er schon seit Wochen nicht mehr wirklich aufgewacht war. Er wurde in einem Leichenwagen mit bestickten Vorhängen von Milford hergebracht und neben seiner Frau begraben. Miss Ferguson, die aus der Güte ihres Herzens glaubte, Wilbur auch diesmal beistehen zu müssen, hatte Colm Finnerty mit dem Taxi im Heim abgeholt und war mit ihm zum Friedhof gefahren. Es war ein kühler, aber schöner Tag, die geschlossenen Schirme hingen den Leuten an den Armen wie Kokons schwarzer Schmetterlinge, und in einem nahen Baum lärmten ein paar Vögel so laut, dass einer der Sargträger sie mit Steinwürfen vertrieb. Der junge Pfarrer redete, als habe er Eamon gekannt, erwähnte aber mit keinem Wort die Kirche oder den Wahnsinn, wie es die Leute aus der Gegend taten, wenn vom alten McDermott die Rede war. Dafür fasste er das Leben des Verstorbenen in ein paar Sätzen zusammen, aus denen Gold leuchtete und Mut und die Liebe zu der Frau, neben der er jetzt zur ewigen Ruhe gebettet wurde.
Wilbur warf eine Schaufel Erde auf den Sarg und verstand nicht, warum Pauline weinte. Henry hatte ihm während der Grabrede die Hand auf die Schulter gelegt, jetzt stand er mit gefalteten Händen da und starrte in die Grube, als sei sie für ihn ausgehoben worden. Colm saß im Rollstuhl, und sein Blick lag während der gesamten Zeremonie auf Orlas Grabstein. Obwohl sie eine Woche nach Wilburs Auftauchen in ihrem Leben an nichts weniger denken wollte als an den Tod, hatte sie ihr Testament geschrieben und sich ein Mädchen gewünscht, das einen toten Vogel in den Händen hält und in einem Beet aus Heidekraut sitzt. Eamons Stein war roh und eckig und wuchtig, ein dunkler Klotz neben ihr, ein Symbol seiner letzten Jahre.
Ein paar Tage nach der Beerdigung kam ein Anwalt zu den Conways. Am Abend erklärte Henry Wilbur, was in den Dokumenten stand. Eamon McDermott habe kein Testament hinterlassen, wodurch das von Orla rechtskräftig sei. Das Haus und alles Land darum herum gehöre Wilbur. Auf verschiedenen Konten befinde sich Geld, das ein Notar treuhänderisch verwalte. Sobald Wilbur achtzehn sei, könne er das Erbe antreten, dürfe das Haus bewohnen oder verkaufen und mit dem Geld machen, was er wolle. Mit achtzehn würde er frei sein, dachte Wilbur und wunderte sich, als Pauline schluchzend in die Küche eilte.
Wenn Wilbur nicht in der Schule oder bei Matthew war, verbrachte er seine freie Zeit bei Colm, ging mit ihm in den Garten oder las ihm aus Büchern vor, die er in der Bibliothek holte. An manchen Tagen konnte Colm keinen Schritt gehen, dann schob Wilbur ihn im Rollstuhl durch die Flure des Heims und hinaus an die Luft. Colm vergaß vieles, aber wenn er sich erinnerte, hörte er nicht auf zu reden. Er wusste noch alle Namen seiner Kühe und die der alten Schafe, und er erzählte von den Schwalben, die jedes Jahr zurückkamen, um unter dem Scheunendach ihre Jungen großzuziehen, und von dem Fuchs, der regelmäßig vorbeischaute, obwohl Colm schon seit Jahren keine Hühner mehr gehabt hatte. Immer wieder erzählte er davon, und jedes Mal tat Wilbur, als habe er noch nie davon gehört. Er brachte Colm von Paulines Keksen mit, und wenn er genug Taschengeld gespart hatte, kaufte er ihm bei Brennan’s eine Zigarre, die er für ihn hinter dem Geräteschuppen des Heims anzündete und deren Rauch er einatmete, bis ihm schwindlig wurde.
Eines Tages saßen sie neben dem Teich, Colm im Rollstuhl und Wilbur im Gras. Der Himmel war bedeckt, und sie waren die einzigen im Garten, weil ein fahriger Wind Regen bringen würde. Colm zupfte das Weiche aus einem Stück Brot, rollte es zwischen den Fingern und ließ die Kügelchen ins Wasser fallen. Die Fische, deren Farbe nicht Gold, sondern ein blasses Orange war, hatten an Gewicht zugelegt und kamen sich im kleinen Teich bereits in die Quere. Als das Brot aufgebraucht war, holte Colm einen Schlüssel aus der Hosentasche und hielt ihn Wilbur hin.
«Was ist das?«fragte Wilbur.
«Der Schlüssel zu deinem Haus«, sagte Colm.
Jetzt erkannte Wilbur den Schlüssel, Orla hatte ihn oft auf dem Küchentisch liegenlassen. Er nahm ihn in die Hand.
«Orla hat ihn mir gegeben«, sagte Colm.»Lange, bevor sie…«Er wischte Brotkrümel von der Wolldecke, die auf seinen Beinen lag, und blickte ins Wasser, das vom Kampf der Fische trübe geworden war.»Damit ich ins Haus konnte. Wenn sie unterwegs war mit dir. Falls etwas gewesen wäre, mit deinem Großvater.«
Wilbur betrachtete den Schlüssel, wog ihn in der Handfläche. Er kam ihm schwer vor, schwerer als der Schlüssel der Conways, der ihm vor ein paar Wochen übergeben worden war, als Beweis des Vertrauens, wie Pauline ihm ernst und feierlich verkündet hatte.
«Es ist dein Haus«, sagte Colm.»Du sollst da reindürfen, wann du willst. Und nicht, wann die es erlauben.«
Wilbur nickte. Er steckte den Schlüssel in die Hosentasche, holte die Zigarre daraus hervor und schob Colm hinter den Geräteschuppen. Dort gab er ihm Feuer und las aus einem Buch vor, das die Freundschaft zwischen einem Pygmäen und einem Elefanten erzählte. Er hatte sich von Anfang an einen Spaß daraus gemacht, den Pygmäen Wilbur und den Elefanten Colm zu nennen, und Colm kicherte noch immer jedes Mal darüber. Der Regen kam nicht, aber sie blieben bis zum Abend alleine im Garten. Das Licht hob die Hügel aus dem Land, glitt an ihren Rücken ins Verborgene und verging. Colm sah in den Himmel, wo die Wolken zeichneten, was Wilbur erzählte. In der Dämmerung war es kühl geworden, doch er fror nicht.
Es gab Tage, an denen Wilbur aufwachte und sich verloren fühlte. Er lag in seinem Bett und starrte an die Innenseite seiner Lider, auf der Blitze zerstoben. Aus der Küche stieg der Geruch von Kaffee und Toastbrot hoch, und er begrub das Gesicht unter dem Kissen. Wurde sein Name gerufen, kam er ihm fremd vor. Er saß mit Pauline und Henry am Frühstückstisch, aber er war nicht bei ihnen. Er ließ sich vom Bus zur Schule fahren und hörte den Lehrern zu, ohne sie zu verstehen. An diesen Tagen ging er nicht zu Matthew, weil er die warmen Töne des Cellos und die tiefe, zärtliche Stimme des alten Mannes nicht ertragen hätte. Colm musste ohne ihn auskommen, denn Wilbur fehlte die Gelassenheit, aus Büchern zu lesen oder die fetten Goldfische zu füttern.