In dieser Stimmung ging Wilbur allem aus dem Weg, er vergrub die Fäuste in den Taschen und trat gegen Abfalleimer und Blumentöpfe. Wer ihn grüßte, bekam einen finsteren Blick zur Antwort und fragte sich, ob das wirklich der Junge mit dem Cello sei. An solchen Tagen war Wilbur traurig, einsam und hoffnungslos, aber vor allen Dingen war er wütend.
Der einzige Ort, an dem Wilbur diesen Gemütszustand ertrug, ohne Dinge zu beschädigen oder Leute zu beleidigen, war ein Laden in Portsalon, der sich Ari’s Mega Video Store nannte. Entgegen seinem pompösen Namen, der auch tagsüber aus einem summenden, mit farbigen Glühbirnen gefüllten Blechkasten über dem Eingang blinkte, war der Laden winzig. Sein Besitzer, ein Finne, der seit zwanzig Jahren mit der einzigen Tochter des ranghöchsten Polizisten im Ort verheiratet war, spielte den ganzen Tag mit seinen Kindern in der Wohnung über dem Laden und kam nur herunter, wenn ein Kunde die Türglocke zum Läuten brachte. Ari Tikkanen war einen Meter dreiundneunzig groß, hatte lange rotblonde Haare und einen wuchernden Bart. Seine Stimme war laut und tief, und wenn er lachte, bekamen es manche Leute mit der Angst zu tun.
Obwohl das Geschäft immer schlechter lief, war er stets bester Laune, bot den wenigen Kunden eine Tasse Tee an, empfahl ihnen cineastische Leckerbissen und verdiente ein bisschen Geld mit Schund und Kitsch. Er schwärmte polternd von russischen und japanischen Regisseuren, deren Namen kein Mensch in Portsalon auch nur aussprechen konnte, und wenn er in Fahrt war, erzählte er ganze Filminhalte auf Finnisch.
«Ach, der Verehrer von Tod und Zerstörung!«begrüßte er Wilbur jeweils fröhlich, schwenkte Kassettenhüllen, auf deren Einbänden farbige Explosionen blühten, und rief die Werbetexte wie ein mittelalterlicher Moritatensänger in die Leere des mit Plakaten und Szenenfotos tapezierten Raumes, Orgien aus Gewalt versprechend. Dann führte er seinen Kunden in eine der drei schrankgroßen und mit schwarz gestrichenen Eierkartons isolierten Kabinen und schob die Kassette in den Rekorder.»Und du bist sicher, dass du in Blut waten willst, statt in den Traumfeldern kirgisischer Avantgardisten zu wandeln?«fragte er grinsend und wissend, dass Wilbur wie immer ernst nicken würde, drückte die Starttaste und schloss die Tür hinter sich.
In diesen engen Kammern war es, wo Wilbur die dunklen Seiten seiner Seele ausleuchtete. Er hatte es mit Kinderfilmen und Komödien versucht, mit Familiendramen und Science Fiction. Ari hatte ihm koreanische Meisterwerke aufgenötigt und sein Herz mit Kubrick und Kurosawa gewinnen wollen. Eine Weile sah Wilbur sich nur Dokumentarfilme an, dann arbeitete er sich systematisch durch die Fantasy-Regale. Alles ließ ihn kalt und langweilte ihn, weil es entweder zu nah an der Realität war oder zu weit von ihr entfernt. Für Ari wurde Wilbur im Laufe der Zeit vom scheinbar abgestumpften Kind, das ihm sein Taschengeld brachte, zum Patienten, den es mit Hilfe der Filmkunst zu kurieren galt. Er sah, dass Wilbur das ihm Gebotene nicht einfach oberflächlich verurteilte, sondern die Filme auf sachliche und angesichts seines Alters erstaunlich intellektuelle Weise für Zeitverschwendung erklärte.
Dabei sagte Wilbur selten, die Filme seien schlecht. Er konnte nur nichts anfangen mit Drachenjägern und Weltraumrittern, mit singenden Katzen, tanzenden Matrosen und fliegenden Torten. Er fühlte nicht den Liebeskummer des wortkargen Amerikaners in Marokko oder den Trennungsschmerz der Südstaatenschönheit, es kümmerte ihn wenig, ob Herzen gebrochen oder Galaxien zerstört wurden, und bei den Komödien wusste er nie recht, wo man ihn zum Lachen bringen wollte und wo die Geschichte Mitleid mit den Figuren verlangte.
Als das Angebot der Filme für Jugendliche unter sechzehn erschöpft war, fragte Wilbur, ob er sich einen Kriegsfilm ansehen dürfe, und Ari erlaubte es ihm. Wilbur war seit Tagen sein einziger Kunde, und er wusste, dass dem Jungen ein Film wie Die Kanonen von Navarone kaum bleibende seelische Schäden zufügen würde.
Danach sah Wilbur sich alle Kriegsfilme aus Aris umfangreicher Sammlung an, und als es davon keine mehr gab, holte Ari ein paar Krimis aus einer Kiste unter der Treppe hervor, französische Schwarzweißwerke mit Jean Gabin und Lino Ventura, später dann amerikanische Streifen mit James Cagney, Edward G. Robinson und Humphrey Bogart. Wochen später war auch dieser Vorrat erschöpft, und Ari zögerte, den Jungen mit noch mehr Barbarei zu füttern. Wann immer er sich mit Wilbur bei einer Tasse Tee unterhielt, hörte er genau hin, und auch nach zahllosen Filmen, die der Staat mit allen rechtlichen Mitteln von Jugendlichen fernzuhalten versuchte, konnte er bei dem Jungen keine Veränderungen feststellen, die auf eine Verrohung des Charakters deuteten. Er hatte als Kindergärtner heimlich Horror- und Vampirfilme verschlungen und sah keinen Grund, weshalb er seinem vierzehnjährigen Kunden Filme wie Dirty Harry, The French Connection oder Taxi Driver vorenthalten sollte.
Tatsächlich fühlte Wilbur sich bereit. Nur noch vage erinnerte er sich an die Zeit, als er neben Orla im Kino saß und mit den Leinwandhelden fieberte und von Gewehrkugeln, Indianerpfeilen und Laserstrahlen durchlöchert wurde, bis das Tageslicht seine Wunden und heimliche Angst verschwinden ließ und er an der Hand seiner Großmutter in die Wirklichkeit trat. Schon früh hatte er gelernt, Filme als flimmernde Märchenbücher zu sehen, als kolossale Gutenachtgeschichten, die dazu da waren, ihn von der Realität und der Dunkelheit abzulenken. Irgendwann hatte er die mit Blut und Tränen geschmierte Mechanik dieser Bilderreigen durchschaut und ließ sich von ihnen nur noch unterhalten, nicht mehr täuschen. Er hatte es geliebt, Orlas Hand in seiner zu spüren, den Geschmack der Bonbons auf der Zunge und die verlässliche Helligkeit nach der Vorstellung, aber diese Zeit war lange vorbei.
Das einzige, was ihn jetzt noch erreichte, war schiere Gewalt. Männer, deren Leben schreckliche Wendungen nahmen, die in ausweglose Situationen gerieten und zornig oder skrupellos genug waren, um sich ihren Weg freizuschießen. Diese tragischen, brutalen und verzweifelten Gestalten waren es, die ihn berührten und aufwühlten und ihm für die Dauer eines Films vormachten, wie man seine Existenz veränderte, auch wenn man sie dabei vernichtete.
Der Nachschub aus dem Kassettenlager schien unerschöpflich. Jedes Mal wenn Wilbur den Laden betrat, hatte Ari einen neuen Film für ihn. Es machte ihm Spaß, für den kleinen Kenner Reihen zusammenzustel len, ihn mit den Arbeiten eines Regisseurs vertraut zu machen und ihm in chronologischer Folge sämtliche Werke mit Clint Eastwood, Charles Bronson oder Robert De Niro vorzuführen. Oft setzte er sich mit dem Jungen und einer Tasse Tee hin und hielt eine leidenschaftliche Einführung in den Film, mit dem er Wilbur gleich beglücken würde, las aus Fachzeitschriften und Büchern vor, öffnete Sammelordner voller Standbilder, Werbezettel und Autogrammkarten in Klarsichtmappen und entrollte Originalplakate, die nach vergangener, unwirklicher Zeit rochen.
Ari’s Mega Video Store war Wilburs Zweitwelt, ein Paralleluniversum, durch das er in seiner Kapsel aus Phantasie und Verzweiflung glitt, geblendet von Zelluloidgewittern und betäubt vom Donnerhall ferner Explosionen. In dieser Galaxie aus Gesetzlosigkeit und niedrigster Gesinnung zerstieb sein trotz aller Schrecken behütetes Leben zu einer nebligen Erinnerung, und alles, was ihm widerfahren war, trat für eine Weile zurück, und was noch auf ihn lauern mochte, verlor an Bedrohlichkeit.
Eines Tages saß Wilbur in seiner dunklen, schallgedämpften Box und sah endlich Die Hard von Anfang an und ohne Werbeunterbrechungen, und er ließ es geschehen, dass er den Fernseher vergaß und die Eierkartons und die spielenden Kinder über seinem Kopf, dass die Stunden mit Matthew, die Besuche bei Colm und die für immer in ihm aufgehobenen Jahre mit Orla neben einem gewaltigen Feuerschein verblassten und er sich in John McClane verwandelte, der in einem flammenden Hochhaus barfuß über Scherben ging und Leute erschoss.