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Bevor ich aufgetaucht bin, hat Randolph die kleinen, nicht allzu widerwärtigen Arbeiten selber erledigt. Ab und zu hat er einen Typ von der Straße oder einen der Stammgäste angeheuert, aber die alten Männer waren auf Dauer zu unzuverlässig und ungelenkig. Jetzt hat er mich. Das kleinste Zimmer und fünfzig Dollar die Woche sind zwar reine Ausbeutung, aber besser als gar nichts. Vom Nachtportier weiß ich, dass der Besitzer seine Kindheit in diesem Hotel verbracht hat, als seine Eltern es führten und die Zimmer noch edler und die Gäste respektabler waren. Der Mann sei schwerreich und behalte das Hotel aus sentimentalen Gründen, so wie andere Leute ein altes Puppenhaus auf dem Dachboden aufbewahren und langsam vergammeln lassen.

Am Abend sitze ich in meinem Zimmer und lese die Zeitungen, die ich in der Lobby aufgesammelt habe. Dabei fasse ich die Seiten nur an der oberen Ecke an, weil die alten Männer beim Umblättern ihre Finger mit Spucke befeuchten. Im Laden der Heilsarmee habe ich eine Hose und einen Mantel gekauft. Beides trage ich jetzt, weil es kühl ist im Zimmer. Meine Haare sind noch feucht vom Duschen, und ich nehme mir vor, Winston morgen zu fragen, ob sich in all dem Ramsch, den er verkauft, vielleicht auch ein gebrauchter Föhn verbirgt.

Im Zimmer neben mir hustet Dobbs, ein ehemaliger Militärpilot, der vor dreißig Jahren bei einem Übungsflug mit seinem Hubschrauber samt Copiloten und zwei Bordschützen in eine Kürbisplantage in Alabama gestürzt ist und seither von einer mickrigen Rente lebt. Mindestens einmal am Tag klopft er an meine Tür, dann lasse ich ihn herein oder gehe zu ihm rüber und höre mir eine seiner Geschichten an. Dobbs hat ein steifes Bein, nur noch einen halben rechten Daumen, und mit seinem Kopf ist vermutlich auch nicht mehr alles zum Besten bestellt. Doch er ist freundlich und redselig und in einer tiefen Traurigkeit gefangen, die er lächelnd erträgt.

Gestern habe ich ihm eine Tafel Schokolade mitgebracht, um ihn aufzuheitern. Er hat sich so gefreut, dass er schwor, die Schokolade nicht anzurühren, sondern sie auf der Kommode neben seine gerahmten Fotos zu stellen, aber ich habe ihn gedrängt, davon zu essen. Dann haben wir zusammen die ganze Tafel verdrückt, und er hat das Papier auf dem Tisch glattgestrichen und mit Reißzwecken an die Wand geheftet. Während wir die billige Schokolade aßen, hat Dobbs mir noch einmal erzählt, wie die reifen Kürbisse gegen das Cockpitfenster prasselten und schwarze Landarbeiter aus einer Hütte rannten, als der Hubschrauber zur Seite kippte und die Heckrotoren die Erde aufwarfen. Er hat die plötzliche Stille beschrieben und das Blau des Himmels hinter dem verdreckten Glas, aber nicht das Blut, nicht den Körper des toten Bordschützen, nicht sein Gesicht. An der Stelle, an der Dobbs sich aus dem Sicherheitsgurt löst, klinkt er sich auch aus der Geschichte. Dann sitzt er da und sieht an mir vorbei, und in seinem abgedunkelten Schädel flackern die Bilder, die er nicht in Worte fassen kann.

Nach einer Weile geht ein Schlag durch ihn hindurch, sein Kopf wackelt auf dem dünnen Hals, der Blick sucht die eigenen Hände. Er erhebt sich und verfällt in Geschäftigkeit, kocht Tee oder faltet ein Handtuch zusammen, lächelnd, als sei ihm seine Seelenqual peinlich. Dabei redet er atemlos von Spaziergängen im Park, von Büchern und Tauben. Den Tauben, die er füttert und die ich Randolphs Anweisungen zufolge vergiften soll.

Ich lege mich auf das Bett und breite den Mantel über mir aus. Meine Haare sind trocken. Ich hätte gerne meinen Koffer bei mir, meine paar Dinge, die ich schon so lange mit mir herumgeschleppt habe. Die Aufnahme von Orla in Sligo, die beiden Fotos meiner Mutter, den reitenden Indianer, Colms Nashorn, die Briefe. Ich frage mich, was Vermeer damit macht. Ohne meinen Pass bin ich aufgeschmissen. Ich kann weder den Scheck einlösen noch das Land verlassen. Im National Geographic habe ich einen Artikel über einen Ort in Mexiko gelesen, in dessen Bucht Wale ihre Jungen zur Welt bringen. Touristen fahren da hin, um sich die Tiere anzusehen. Dort würde ich bestimmt einen Job finden. Das Leben wäre billig, ich könnte eine Weile bleiben und warten, bis etwas passiert, das mich vertreibt. Dann würde ich noch tiefer in den Süden fahren. Guatemala. Honduras. Ich könnte hinunter bis nach Chile, bis es nicht mehr weitergeht. Aber ohne Pass kann ich nicht weg.

Ich habe mir schon überlegt, in die Stadt der Selbstmörder zurückzugehen, um meine Sachen abzuholen, aber dann denke ich an Vermeer, den ich im Stich gelassen habe, und vergesse es. Die Vorstellung, vielleicht Aimee zu begegnen, ist ein weiterer Grund, nicht zu gehen, ganz zu schweigen von Elroy und den anderen Nervensägen. Nachts vermisse ich manchmal Melvins Gemurmel, aber am Morgen bin ich immer froh, mir das Gequatsche im Speisesaal nicht anhören zu müssen. Irgendwann in den nächsten Tagen werde ich schriftlich darum bitten, dass man mir meine Sachen ins Hotel schickt. Ich werde Vermeer ein paar Zeilen schreiben und den Scheck beilegen, den ich ohne Ausweis sowieso nicht einlösen kann. Eintausend Dollar gegen eine Handvoll Erinnerungen in einem schäbigen Koffer. Ein fairer Tausch, finde ich.

Weil ich nicht schlafen kann, weil mir kalt ist und ich nur in Träumen versinke, aus denen ich nach kurzer Zeit aufschrecke, gehe ich hinunter in die Lobby. Leonidas sitzt hinter der Theke und schreibt. Er ist der Nachtportier. Er ist etwa halb so alt wie Randolph, um die dreißig, sieht aber jünger aus. Er trinkt und raucht nicht, und er rennt jeden Tag fünf Meilen, bei jedem Wetter. Sein Job lässt ihm viele Freiheiten, und wenn er sich nicht gerade mit einem der Dauermieter herumschlägt oder einen neuen Gast abfertigt, schreibt er Briefe an seine Familie in Griechenland. Und Theaterstücke, Tragödien. Er hat mir drei davon vorgelesen. In den Stücken geht es vor allem um Liebe und Verrat und Tod. Leonidas hat mich gefragt, warum kein Theater an seinen Stücken interessiert sei. Ich habe ihm gesagt, das sei vielleicht so, weil in seinen Stücken ziemlich viel gestorben werde. Er meinte, im richtigen Leben würde doch auch dauernd jemand sterben. Wer, wenn nicht ich, musste ihm da recht geben?

Heute schreibt er nur Briefe. Er will ein Foto von mir machen, und ich stelle mich vor die Wand, an der die Hausordnung und ein Feuerlöscher hängen. Leonidas’ Mutter will von allen Menschen, mit denen ihr Sohn privat und beruflich zu tun hat, Fotos. Sie sieht sich die Bilder an und teilt ihrem Sohn dann mit, ob er den Leuten trauen kann oder sie meiden soll. Leonidas hat eine Digitalkamera und ein Notebook, mit dem er die Bilder über das Internet verschickt. Er erwähnt nichts vom Auswahlverfahren seiner Mutter, das weiß ich von Enrique, einem Stammgast, der durchgefallen ist und von Leonidas seither höflich, aber zurückhaltend behandelt wird.

Enrique und Alfred sitzen in den abgewetzten Möbeln unter dem Kronleuchter und spielen Domino. Enrique ist Exilkubaner und ohne seine Brille blind, Alfred ein Vertreter für Klimageräte, der hier ein Zimmer nimmt, wenn er in New York zu tun hat, was die meiste Zeit des Jahres der Fall ist. Enrique ist Mitte fünfzig, Alfred vielleicht zehn Jahre älter, und beide trinken wie die Fische. Gestern wollten sie mich losschicken, um ein paar Flaschen Wein zu besorgen, und als ich ihnen sagte, ich sei hier das Mädchen für vieles, aber nicht alles, und außerdem verbiete die Hausordnung Alkoholkonsum, waren sie eingeschnappt.

Ich mag das Klicken, das entsteht, wenn Alfred mit den Steinen spielt, und setze mich neben Spencer auf das Sofa. Spencer ist weit über siebzig und hat, seit ich hier bin, noch kein Wort geredet, weder mit mir noch sonst jemandem. Dabei ist er nicht unhöflich, auch jetzt nickt er mir freundlich zu. Er trägt einen hellen Anzug, einen Panamahut mit schwarzem Stoffband und schwarze Schuhe, die immer poliert sind. Leonidas sagt, Spencer sei früher reich gewesen und rede nicht mit jedem. Ich kann Spencer gut leiden, vor allem, weil er keine Kippen auf den Boden schmeißt und mich nie darum bitten würde, mir seine verstopfte Toilette anzusehen.