Manchmal stelle ich mir vor, so alt wie Spencer zu sein. Wir schreiben das Jahr 2050, und das Hotel ist noch heruntergekommener als jetzt, eine Insel in der Zeit. Ich habe das Leben bald hinter mir und verbringe meine restlichen Tage damit, meine drei Hemden und die beiden Anzüge, einen hellen und einen dunklen, zwischen der Reinigung hin- und herzutragen, meine zwei Paar Schuhe zu polieren und die Museen der Stadt zu besuchen. Ich habe ein paar Gebrechen und für jedes eine Tablette in einem praktischen Wochenspender. Jeden Morgen um halb neun Uhr trinke ich in meinem Stammlokal ein Kännchen Tee und lese die Zeitung. Die Kellnerin, etwas jünger als ich und noch immer eine Schönheit, mag mich und bringt mir manchmal ein zweites Croissant, auf Kosten des Hauses. Am Nachmittag widme ich mich meinem Hobby, Philatelie oder Numismatik, vielleicht male ich Aquarelle. Die Wände meines Zimmers sind mit Büchern gefüllt, die alten Griechen, die Russen, dicke Bände, die ich beidhändig aus den Regalen stemmen muss. Ich besitze einen Hut, einen breitkrempigen argentinischen. Die Leute fragen sich, woher ich komme, und erfinden Biografien für mich. Ich sterbe im Schlaf, traumlos. Zu meiner Beerdigung kommt niemand. Die Kellnerin erfährt erst Wochen später von meinem Tod und vertraut einer Freundin an, mich heimlich geliebt zu haben.
Spencer sieht durch ein Fenster auf die Straße hinaus, wo nichts ist, und seine Verlorenheit und Genügsamkeit haben etwas Tröstliches. Seine gefalteten Hände ruhen in Kinnhöhe auf dem Knauf seines Gehstocks, seine Wimpern zittern wie Insektenfühler, und wenn er einatmet, klagt etwas in ihm leise über die Anstrengung. Bevor er sich erhebt, nickt er mir zu, dann geht er zur Treppe und steigt langsam Stufe um Stufe hoch in den dritten Stock, wo am Ende des Flurs sein Zimmer liegt und nichts und niemand ihn erwartet. Ich bleibe noch eine Weile sitzen. Enrique und Alfred machen sich lustig über mich, weil ich nicht trinke, sind aber heimlich froh, dass ich den angebotenen Schluck Wein ablehne. Leonidas klebt Umschläge zu, ein ganzer Stapel liegt auf der Theke. Ich beneide ihn um all seine Verwandten, die wollen, dass er zurückkommt. Ich wünsche ihm eine gute Nacht und gehe nach oben, langsam und ohne Erwartung, genau wie Spencer.
Ich sauge den Teppich in der Lobby, und Randolph liest in seinem Sportfischermagazin, als mir jemand auf die Schulter tippt. Ich denke, es ist Mazursky oder Elwood, einer der beiden Stammgäste, die dauernd ankommen und mir ins Ohr brüllen, in ihrem Zimmer tropfe der Wasserhahn oder das Fenster sei undicht. Ich habe ihre ewigen Reklamationen satt und drehe mich so abrupt um, dass Aimee vor mir zurückweicht. Erst als sie mein Gesicht sieht, lacht sie, nur kurz, dann wird sie ernst. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, sie ist verlegen. Ich schalte den Staubsauger aus, der infernalische Lärm verstummt.
«Ich wusste, ich finde dich hier«, sagt sie. Der Mantel, den sie trägt, ist dick und riecht nach Rauch und dem leichten Regen, der seit dem späten Morgen über der Stadt niedergeht, obwohl Winston für den ganzen Tag trockenes Wetter vorhergesagt hat. Ich wette, er sitzt ohne Regenjacke oder Schirm auf seinem Stuhl vor dem Laden und trotzt dem Nieseln und der Kälte.
«Ziemliches Mistwetter, was?«sagt Aimee, reibt sich die Hände und winkt dann in Randolphs Richtung. Randolph nickt ihr kurz zu. Enrique, Alfred und Mazursky haben ihre Zeitungen und Rätselhefte und Versandkataloge zur Seite gelegt und bringen ihre Kleidung in Ordnung. Alfred kämmt sich in Sekundenschnelle das schüttere Haar und nimmt die Brille ab.
«Arbeitest du hier?«Aimee wirft einen Blick auf den vorsintflutlichen Staubsauger, der mit seiner Eiform und dem runden Sichtfenster an ein Raumschiff aus Flash Gordon erinnert.
Ich nicke. Mir fällt ein, dass ich noch nie ein Wort zu Aimee gesagt habe. Bestimmt hat ihr jemand erzählt, dass ich wieder spreche. Spencer kommt die Treppe herunter und bleibt vor Randolphs Theke stehen. Er trägt einen Wintermantel und hat statt des Stocks einen Regenschirm in der Hand. Randolph dreht sich auf dem Barhocker um, obwohl er weiß, dass Spencers Fach leer ist, schüttelt den Kopf und liest weiter. Spencer nickt, als habe er nichts anderes erwartet, setzt den Schlechtwetterhut auf, ein dunkelgraues Modell mit geschwungener Krempe, und durchquert die Lobby. Dabei grüßt er Aimee und mich mit einem Nicken, schlägt den Mantelkragen hoch und verschwindet hinter dem schweren Vorhang, der zwischen Eingangshalle und Tür hängt und die kalte Luft zurückhält.
«Netter Ort«, sagt Aimee. Ich zucke mit den Schultern. Enrique schneidet Grimassen in meine Richtung, und ich sehe woanders hin.»Hast du ein bisschen Zeit?«fragt Aimee.»Auf dem Weg hierher hab ich ein Lokal gesehen. «Sie wartet.»Ich spendier dir einen Drink.«
Alfred kann nicht anders, als ein leises Johlen von sich zu geben.»Ich hätte Zeit«, ruft er. Enrique findet das ungemein komisch. Mazursky kichert vor sich hin. Als ich ihm einen wütenden Blick zuwerfe, verstummt er und baut einen Paravent aus seiner Zeitung.
«Kann auch ein Kaffee sein«, sagt Aimee. Ein graublauer Schal ist um ihren Hals gewickelt, an den Füßen trägt sie klobige schwarze Schnürstiefel.»Komm schon, mach’s mir nicht so schwer, Will. «Sie lächelt ein wenig, und jetzt bin ich fast sicher, dass sie verlegen ist.
«Komm schon, Will«, sagt Alfred, und Enrique wiehert drauflos.
«Muss erst Randolph fragen«, sage ich und gehe zur Theke. Den Staubsauger ziehe ich hinter mir her, seine kleinen Räder quietschen. Randolph sieht nicht einmal von seinem Magazin hoch und sagt, ich solle abhauen.
Das Lokal liegt zwei Blocks vom Hotel entfernt. Ich bin schon daran vorbeigegangen, Kneipen sind nicht mein Fall. Der Raum ist lang und schmal. Links stehen die Theke, Regale und Kühlschränke, rechts die Tische, durch schulterhohe Wände voneinander abgetrennt. Ganz hinten bei der Tür, wo es zu den Toiletten geht, hängt eine Dartscheibe. Ein altes Ehepaar, beide in Jeanshosen, — hemden und — jacken gekleidet, spielen gegeneinander. Sie erledigen ihre Würfe, als sei es eine Arbeit. Die Frau ist klein und zierlich, und nur dank ihren aufgetürmten blonden Haaren wirkt sie neben ihrem Mann nicht wie ein Kind.
«Danke für den Brief«, sagt Aimee. Sie lächelt und berührt ebenso flüchtig meine Fingerspitzen. Ich ziehe die Hand zurück und bereue in der gleichen Sekunde, es so jäh getan zu haben. Aimees Handschuhe liegen auf dem Tisch, auch der Schal und eine Wollmütze, die sie auf dem Weg hierher aufgesetzt hat. Ich frage mich, ob sie selber strickt oder ob sie die Sachen von ihrer Mutter bekommen hat, vielleicht von ihrer Großmutter. Die Kellnerin bringt meinen Tee und Aimees Milchkaffee. Sie hält eine Tasse in jeder Hand und bewegt sich beinahe grotesk langsam zu unserem Tisch, um nichts zu verschütten. Aimee lächelt ihr zu, aber sie bemerkt es nicht, weil sie bereits wieder auf dem Weg zur Theke ist, um den Zuckerstreuer zu holen. Das Etui mit dem Trinkhalm steckt in meiner Hosentasche, aber ich lasse es dort.
«Es tut mir leid«, sagt Aimee.»Die Sache im Gartenhaus.«
Ich fülle den Löffel mit Tee und verbrenne mir die Zunge daran. Alles in diesem Raum ist alt und aus dunklem Holz. Das Licht ist gelb, über der Theke farbig, wo es aus den Neonschildern der Bierfirmen strömt und, vom Spiegel zurückgeworfen, über den Tresen und die Barhocker und ein Stück des Bodens fließt. Die Stille ist ungewöhnlich. Ein Kühlaggregat summt, Musik kommt von irgendwoher, so leise, dass ich nicht einmal die Sprache verstehe. Die Kellnerin stellt den Zucker auf den Tisch und geht zu dem Dart spielenden Paar.