Später sehe ich mir Twelve Monkeys an. Ich kenne den Film schon, aber in Schwarzweiß und Postkartengröße ist es ein neues Erlebnis. Flimmernd und ohne den Trost der Farben wirken die Bilder noch düsterer, die Geschichte verliert selbst den letzten Funken Hoffnung. Ich liege auf dem Bauch, meine Nase berührt beinahe den warmen Bildschirm. Ich krieche unter die Erde zu den Überlebenden, ich folge Bruce Willis in die Vergangenheit, ich bin James Cole, der im falschen Jahr landet, neunzehnhundertneunzig, dem Jahr, in dem Orla starb.
Ich liege auf den Steinen, dem Turm im Meer aus Gras. Über mir sind Sterne. Mein Großvater kniet neben mir. Das Messer in seiner Hand schimmert im Licht des Mondes. Er hat Gott gerufen, aber die Stille um uns ist nicht nur die meines Traums. Er wollte uns erlösen, alles Unrecht sühnen, jetzt verliert sich sein Blick im Leuchten der Klinge. Ich spüre mich nicht. Ich bin ein Name in einem alten Heft, eine Skizze, ich liege zwischen den Zeilen, umgeben von Wörtern ohne Sinn. Mein Körper ist ein zittriger Kreis, meine Haut aus Tinte. Das Papier schluckt mich, es weht mich davon, an den Rändern glühend. Mein Großvater weint, und ich will meine Hand auf seine legen, aber ich bin schon fort. Der Wind treibt mich aufs Meer, im Wasser bekomme ich einen Leib und sinke schwer zum Grund. Die Fische rufen meinen Namen.
«Wilbur.«
Das Wasser ist getränkt von Helligkeit, Mondlicht trägt mich. Ich muss atmen, in meinen Lungen kreist singend ein Rest verdorbener Luft. Meine Arme rudern, unter meinen Füßen ist nichts, nicht einmal das Muster aus schwarzen Namen. Fische schwimmen durch mich hindurch.
«Wilbur?«
Mein Kopf stößt durch die Oberfläche in die Dunkelheit. Klopfen dringt an mein Ohr. Ich öffne den Mund und schlucke warmen Sauerstoff. Ich huste, richte mich auf und starre keuchend auf die Wand vor mir. Langsam heben sich die Dinge aus dem Dunkel, der Schrank, der Stuhl.
«Wilbur, bitte mach auf. «Wieder das Klopfen.
Ich stehe auf, es ist ein halber Schritt zur Tür. Aimee steht auf dem Flur, breit und schwarz in ihrem Mantel. Wir sehen uns an, das Spiel ist zu Ende.
«Eine Katze«, sagt Aimee nach einer Weile. Hinter ihrem Kopf brennt ein Licht, ihre Haare leuchten. Sie riecht nach Regen und U-Bahn und Dieselwolken.
«Was?«Meine Stimme ist leise, ich räuspere mich.
«Die Narbe. Ich habe mit der Katze des Nachbarn gespielt.«
Ich nicke, dann erst begreife ich. Der rosafarbene Halbmond auf ihrer Wange. Aus einem der Zimmer dringt Musik, jemand flucht. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung, und ich spüre den Ruck durch die nackten Fußsohlen.
«Lässt du mich rein?«
Ich trete zur Seite, und sie kommt zu mir ins Zimmer. Ihr Haar streift mich beinahe. Erst jetzt sehe ich, dass sie in der Hand meinen Koffer trägt.
Die Hard With A Vengeance, 1995
Aus den Zimmern des Hotels drang Beethoven, Ravel und Satie, aus einigen Pink Floyd und Charlie Parker, und in einem war es still. Wilbur lag auf dem Bett und studierte die Karte, die er am Nachmittag gekauft hatte. Seit drei Tagen war er jetzt zusammen mit vierundachtzig jungen Musikern in Göteborg, und es erschien ihm wie eine Ewigkeit. Er hatte vor einer Jury Cello gespielt, an Ausflügen und einer Fernsehsendung teilgenommen, hatte für Gruppenfotos posiert und mit Menschen geredet, die ihm eine wundervolle Zukunft voraussagten. Ständig hatten Leute der Stiftung an seine Zimmertür geklopft und ihn zu Empfängen in Botschaften und Besichtigungen von Sehenswürdigkeiten geschleppt, und mehrmals täglich rief entweder Matthew oder Pauline an, um sich alles erzählen zu lassen.
Heute hatte Wilbur endlich Gelegenheit gehabt, sich frei zu bewegen. Nach dem Mittagessen hatte er sich aus dem Hotel geschlichen, eine Reisetasche und einen Schlafsack gekauft und war am Bahnhof gewesen, um die Abfahrtszeiten von Zügen zu notieren. Der Ort, aus dem sein Vater die Briefe geschrieben hatte, hieß Nora und lag etwa zweihundertfünfzig Kilometer nordöstlich von Göteborg. Die Angestellte auf dem Postamt, der Wilbur die Briefumschläge zeigte, behauptete, es gäbe mindestens fünf Orte mit diesem Namen in Schweden, aber dank des Stempels konnte sie ihm den richtigen nennen.
Wilbur nahm das Geld, das Matthew ihm mitgegeben hatte, hervor und zählte es ein weiteres Mal. Wenn er es vernünftig einteilte, würde es für zwei Wochen reichen. Er fuhr mit dem Finger die Strecke ab, dann faltete er die Karte zusammen, erhob sich und betrachtete Matthews Schalenkoffer. Zwischen weißen Hemden, schwarzen Socken und dezent farbigen Krawatten lagen Notenhefte und Schokoriegel und ein dünnes, in schlechter Qualität gedrucktes Buch über Bruce Willis. Ari hatte ihm das Buch geschenkt, zusammen mit einer signierten Fotografie von Jane Russell, die als Lesezeichen zwischen den Seiten steckte. Wilbur verstaute die Karte und das Buch in der Reisetasche und sah auf die Uhr. In einer Stunde war das Abendessen mit den Veranstaltern und Sponsoren. Der Bürgermeister von Göteborg würde eine Rede halten, und nach dem Dessert käme der große Augenblick, wo der Präsident der Moorhead-Stiftung die diesjährigen Gewinner der Young European Musicians Awards bekanntgab.
Matthew rief an und wünschte ihm zum tausendsten Mal viel Glück. Pauline erinnerte ihn daran, eine Postkarte zu schicken. Beide schrieben die Tatsache, dass Wilbur kaum etwas sagte, seiner Nervosität angesichts der bevorstehenden Preisverleihung zu. Die Vorhänge waren geschlossen, und der Fernseher, der ohne Ton lief, war die einzige Lichtquelle im Zimmer. Wilbur öffnete noch einmal die Segeltuchtasche und verstaute zwei Flaschen Wasser und einen Beutel Erdnüsse aus der Minibar darin. Schließlich zog er den dunklen Anzug an und ging hinunter in die Lobby, um mit den anderen auf die Wagen zu warten, die sie in die Festhalle brachten.
Der Zug fuhr an einem See entlang, in dessen Wasser sich Wolken spiegelten. Ein einsames Segelboot verlor sich im Blau, zwischen Bäumen leuchteten farbige Zelte. Wilbur bemühte sich, diese Dinge zu sehen, um nicht an die Folgen seiner Reise zu denken. Bestimmt suchte man nach ihm. Er hatte das Hotel am Morgen früh durch einen Hinterausgang verlassen, war zu Fuß zum Bahnhof gegangen und hatte den Regionalexpress nach Örebro bestiegen. Zwischen unausgeschlafenen Pendlern sitzend, hielt Wilbur den Rucksack umklammert und stellte sich vor, wie sein Hotelzimmer nach Hinweisen auf sein Verschwinden untersucht wurde. Er sah Vertreter der Stiftung in Matthews Koffer wühlen, während der Hoteldirektor telefonierte und dabei ratlos das Cello betrachtete.
Bald würde man Pauline anrufen und die Polizei verständigen. Eines der vielen Fotos, die ihn geduldig lächelnd im dunklen Anzug zeigten, würde vervielfältigt und an Passanten auf der Straße verteilt. Die Leute würden einen kurzen Blick auf sein Gesicht werfen, seine Augen, die um Haaresbreite an ihnen vorbeisahen, und dann den Kopf schütteln. Vermutlich würde Pauline Matthew anrufen. Bei diesem Gedanken zog sich Wilburs leerer Bauch zusammen, und er musste sich zwingen, beim nächsten Halt nicht auszusteigen und den nächsten Zug zurück nach Göteborg zu nehmen.
Einige Reisende lasen Zeitung, und obwohl Wilbur wusste, dass es Unsinn war, fürchtete er, auf jeder Seite sein Bild zu entdecken, wie er auch in jedem Bahnhof Polizisten erwartete, die nach ihm suchten. Schloss er die Augen, geriet seine von Angst und Schuld genährte Phantasie völlig außer Kontrolle, und er sah Hubschrauber und Bluthunde, Straßensperren und endlose Ketten von Uniformierten, die Waldstücke durchkämmten. Er sah Pauline und Henry in einem Flugzeug nach Schweden sitzen und, im dunklen Wohnzimmer, Matthew, der vor Sorge krank wurde und vergaß, die Katze zu füttern. Dann öffnete er die Augen, und bunte Häuser und Scheunen, Kühe und Autos stürzten an ihm vorbei in eine Vergangenheit, in die er nicht mehr zurückkehren konnte, um ungeschehen zu machen, was er getan hatte.