In Örebro kaufte Wilbur sich eine Sonnenbrille und eine Baseballkappe ohne Aufdruck. Um noch weniger nach dem Jungen auszusehen, dessen Bild vielleicht schon bald in Postämtern und Bahnhofshallen hing, schnitt er sich mit einer billigen Schere auf dem Klo eines Schnellrestaurants die Haare. Mitten in dieser Prozedur fing er an zu weinen und wünschte sich nichts sehnlicher, als mit Colm am Goldfischteich zu sitzen. Es dauerte eine Weile, bis er sich beruhigt hatte, dann wusch er sich das Gesicht und ging zurück auf die Straße, wo er in den Menschenströmen durch die Stadt trieb. Weil er dachte, sich stärken zu müssen, aß er einen der mitgebrachten Schokoriegel und trank eine Flasche Wasser, aber danach fühlte er sich nur noch elender.
Aus Angst, wieder weinen zu müssen, legte er sich im Folkets Park auf die Wiese und zog die Kappe ins Gesicht. Um ihn herum redeten Außerirdische, die Luft und das Gras rochen anders als in Irland, und sogar die Käfer und Mücken hatten etwas Bedrohliches. Vor dem Weihnachtskonzert hatte Matthew ihm beigebracht, wie man atmete, um das flaue Gefühl im Magen loszuwerden, und jetzt lag Wilbur auf dem Rücken und versuchte sich daran zu erinnern. So verging eine Stunde und mehr.
Irgendwann schob er die Mütze aus den Augen und sah in den Himmel, wo absurd große Wolkengebilde vorüberglitten, langsam, ohne ihre Form zu verändern. Unter einem Baum pickte eine Amsel im Gras, und ihr vertrauter Anblick hatte etwas Beruhigendes. Wilbur holte das Buch, das Ari ihm geschenkt hatte, aus der Reisetasche und las darin. Es trug den Titel Bruce Willis Goes To The Bad und war die unautorisierte Biografie aus der Feder eines Filmstudenten der Penn State University namens Lester J. Ormond. Auf den ersten hundertzwanzig Seiten des auf billigem Papier gedruckten Buches beschrieb der Autor, ein Freund gedrechselter Formulierungen, den Werdegang des Schauspielers, ohne es dabei mit Fakten oder der Wahrheit besonders genau zu nehmen. So diagnostizierte er bei Willis eine Phase sexueller Verwirrung, ausgelöst durch ein homoerotisches Erlebnis in der Pubertät, und beschrieb einen nirgendwo sonst dokumentierten Badeunfall, bei dem der damals Einundzwanzigjährige beinahe ertrank und eine Schädigung des Gehirns infolge Sauerstoffmangels erlitt. Diese Spätfolgen machte der Autor dafür verantwortlich, dass aus dem netten und zurückhaltenden Jungschauspieler der unberechenbare und in einem Panzer aus Selbstüberschätzung auftretende Macho wurde, der die Rolle des Privatdetektivs David Addison in der Fernsehserie Moonlighting erhielt, weil er in zerfetzten Kleidern und mit Irokesenschnitt zum Casting erschienen war und dreitausend Mitbewerber wie blutleere Schwächlinge hatte aussehen lassen.
Eine Anwaltskanzlei, die mit nichts anderem Geld verdient, als ihre prominente Klientel vor rufschädigenden Elementen wie Ormond zu schützen, erreichte eine einstweilige Verfügung gegen das in einer Auflage von fünfhundert Stück erschienene Buch und schließlich dessen Einstampfung. Bevor das Urteil rechtskräftig war, hatte Ari drei Exemplare erworben und seiner umfangreichen Sammlung einverleibt, zu deren größten Kostbarkeiten ein von Jodie Foster während der Dreharbeiten zu Taxi Driver mit Colaflecken geweihtes Drehbuch, eine zerknitterte A4-Seite mit handschriftlichen Notizen von Stanley Kubrick zu 2001 — A Space Odyssey und ein silbernes Feuerzeug von Orson Welles gehörten.
Die nächsten zweihundert Seiten widmete Lester J. Ormond den Filmen von Bruce Willis, und da er offensichtlich mit Spekulationen und Verleumdungen weniger Probleme hatte als mit der Verletzung von Urheberrechten, waren im Buch keine Fotos abgedruckt, sondern Gemälde einer Künstlerin namens Tracy Sorrentino, die Filmszenen in Öl festhielten und stilistisch an schlechte Kopien von Werken Francis Bacons erinnerten.
Wilbur liebte das Buch. In den wildesten Passagen las es sich wie ein absurder Roman, und wo Ormond seinen heftigen und zwiespältigen Gefühlen gegenüber Willis freien Lauf ließ, wie ein fiebriger, irrer und von Beleidigungen durchsetzter Liebesbrief. Als wahres Kunstwerk betrachtete Wilbur den Teil über die Filme, in dem der Verfasser ein stilistisches Chaos aus sachlicher Betrachtung, poetischer Überhöhung und unflätiger Kritik anrichtete, durch das immer wieder, gebadet in Pathos und Kitsch, verschlüsselte Sätze der Verehrung leuchteten. Zu Die Hard schrieb er:»In Bruce Willis’ Gesicht liegt, verborgen unter Härte und Desillusioniertheit, die Andeutung eines Lächelns, das selbst in der Gegenwart des Todes Liebe und Hoffnung ausstrahlt. Liebe gegenüber seiner Familie, für die zu sterben er bereit ist, das Herz vielleicht schwer vor Wehmut, aber frei von jeder Furcht. Hoffnung hegend für die Zeit nach dem Töten, die in seinem abgeklärten Traum keine bessere sein wird, sondern eine von ängstlichem Singen durchwirkte Stille, in der das Glück eine Flamme im Wind ist. Dieses Lächeln, tausendfach gespiegelt im Regen glühender Trümmer, ist das eines von der perversen Phantasie Hollywoods zur Unsterblichkeit verdammten Mannes, der weiß, dass jedes Haus der Geborgenheit nur ein fragiles Gebilde und dazu bestimmt ist, im Feuersturm zu vergehen, dass das Böse nie ruht und er immer wieder wird töten müssen, ein Verfechter des Guten und Edlen auf einer von blutigen Ozeanen umspülten Insel namens Amerika.«
Als die Wiesen und Bänke sich zur Mittagszeit füllten und Wilbur einen uniformierten Museumswächter für einen Polizisten auf der Suche nach ihm hielt, stand er auf und verließ den Park. Die Lektüre des Buches hatte ihn ruhiger gemacht, und während des Gehens erinnerte er sich an seinen Plan. Schlaflos im Hotelbett liegend und mit dem Ballast zu vieler Filme im Kopf, hatte er die fixe Idee entwickelt, seine Spuren verwischen zu müssen. Er hoffte, es würde seiner Reise etwas von ihrem Schrecken nehmen, wenn ihr eine Art Drehbuch zugrunde läge mit einer Handlung, die ihn zur Figur machte. Ginge er als John McClane durch die fremde Stadt, vermochten ihn die Gefühle von Angst, Reue und Unentschlossenheit vielleicht nicht mehr zu lähmen, denn in seinem Kopf schriebe er fortlaufend eine Geschichte, in der ihm außer Kratzern und gelegentlichen Streifschüssen nichts passierte, eine Geschichte, die er beenden könnte, wenn sie aus dem Ruder liefe. Er hatte Matthews Telefonnummer und die der Conways auf drei Zettel geschrieben, von denen einer in seiner Hosentasche steckte, einer im Innenfach der Reisetasche lag und einer, zusammen mit den Geldscheinen in Haushaltsfolie gewickelt, in seinem rechten Schuh, und beide Nummern hatte er auswendig gelernt. Zwischen seiner Wäsche befanden sich zwei Briefe, in denen er Matthew und Pauline und Henry die Beweggründe für seine Reise nach Nora darlegte und die er abschicken wollte, sobald er Lennard Sandberg gefunden hatte.
Dass Bruce Willis keine Telefonnummern für Notfälle bei sich trug und John McClane keinen Plan B hatte, der eine reumütige Rückkehr nach Hause vorsah, war Wilbur klar. Aber bestimmt war weder der eine noch der andere mit fünfzehn auf der Suche nach dem Vater alleine durch Schweden gereist. Und keiner der beiden hatte eine Karriere als Cellist aufs Spiel gesetzt, um seine Mission durchzuführen. Bruce Willis hatte als Kind gestottert, das wusste Wilbur aus verlässlicheren Quellen als denen Lester J. Ormonds. Willis war einmal fast ertrunken, Wilbur genauso. Wenn Wilbur darüber nachdachte, war er vielleicht nicht mutiger als John McClane, aber er besaß mit Sicherheit mehr Mumm als Bruce Willis. Auf jeden Fall hatte er mehr durchgemacht als dieser behütete Junge, der eine Mutter hatte und einen Vater und zwei Brüder und eine Schwester. Wilbur war alleine, und es erschien ihm mehr als gerechtfertigt, dass er in seinem eigenen Film die Rolle des Helden beanspruchte.