In Wilburs Plot war dieser Held auf der Suche nach einem Verräter und dabei nicht nur Jäger, sondern auch Gejagter. Es galt, Verfolger zu verwirren, indem er Haken schlug und falsche Fährten legte. Er ging zurück zum Bahnhof und erkundigte sich nach einer Zugverbindung zum Flughafen. Dabei nahm er die Baseballkappe und Sonnenbrille ab und gab sich Mühe, beim Schalterbeamten einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Er fragte, ob es von dort Flüge nach Dublin gebe, worauf der Mann lachend und in holprigem Englisch meinte, das wisse er nicht. Danach schlenderte Wilbur eine Zeitlang möglichst unbeschwert umher, wobei er die Mütze und die Sonnenbrille trug, und ging dann zu einem anderen Schalter, um eine Busfahrkarte in das dreißig Kilometer entfernte Nora zu kaufen.
Der Lärm eines Traktors ließ Wilbur aus dem Schlaf schrecken. Er blinzelte ins Licht, das durch die Lücken zwischen den Brettern fiel und als schiefes geometrisches Muster auf dem Lehmboden der Scheune lag. Er richtete sich auf und spürte einen dumpfen Schmerz im Kopf, der die Nacht auf der Reisetasche gebettet gewesen war. Es dauerte ein paar panische Atemzüge lang, bis er sich erinnerte, wo er war. Das Motorengeräusch verlor sich, und Wilbur kroch aus dem Schlafsack, um seine Schuhe anzuziehen und einen vorsichtigen Blick durch eins der beiden scheibenlosen Fenster zu werfen. Zu seiner Linken erstreckten sich weite, von Hecken und einzelnen Bäumen eingefasste Felder, rechts von ihm lag der Ort, aus dem ein hoher, spitz zulaufender Kirchturm ragte. Grüne, waldbestandene Hügel umwogten die Mulde, in der das Städtchen und der See lagen. Nichts bewegte sich im windlosen Morgen, weder das Gras noch die einzelne Wolke am Himmel, die darauf zu warten schien, vor die Sonne geschoben zu werden. Wilbur rollte den Schlafsack zusammen, stopfte ihn in die Segeltuchtasche und trat auf den schmalen Weg hinaus, der zur Straße führte.
In einem Laden im Ort kaufte er ein Sandwich und eine Packung Orangensaft und setzte sich damit in der Nähe der Kirche auf eine Bank. Wäre er nicht so aufgeregt gewesen, hätte er die Schönheit des Städtchens bemerkt, die vielen Bäume und die Holzhäuser und das Katzenkopfpflaster der Innenhöfe, die gestrichenen Zäune, die Blumenkisten vor den Fenstern und den See. Aber nicht einmal zwei weiß und braun gescheckte Pferde, die ein Mann eine Straße entlangführte, konnten ihn aus seinen Gedanken holen. Wenn er sich vorstellte, vielleicht bald seinem Vater gegenüberzustehen, bekam er kaum noch Luft, und sein Herz raste und schlug ihm bis zum Hals. Er atmete, wie Matthew es ihm gezeigt hatte, dann holte er die Umschläge aus der Reisetasche.
Sein Vater hatte die Briefe an Orla adressiert. Weder auf dem Briefpapier noch auf den Umschlägen war seine Anschrift vermerkt, und er erwähnte mit keinem Wort, wo in Nora er wohnte, ob im eigenen Haus, einer Mietwohnung oder draußen auf dem Land. Im ersten Brief schrieb er, dass ihm alles leid tue, und er bat Orla um Verzeihung. Er fragte nach seinem Sohn, von dem er nicht wusste, dass Schwester Lorraine ihn Wilbur getauft hatte. Im zweiten Brief gestand er, ein feiger und verantwortungsloser Mistkerl zu sein, und bettelte erneut um Vergebung. Der dritte war sehr kurz und endete mit Lennards Bitte, dem Kind nichts von seiner Existenz zu erzählen. Im vierten wechselten sich Verzweiflung, Bitterkeit und Selbstvorwürfe ab, und der fünfte war ein in krakeliger Schrift verfasstes Versprechen, sich nicht mehr zu melden.
Wilbur hatte die Briefe schon so oft gelesen, dass er sie auswendig konnte. Trotzdem suchte er in ihnen noch immer nach Antworten auf die Frage, ob sein Vater ihn vermisste oder hasste. Lennard Sandberg schrieb viel von sich, von seiner kleinen dunklen Welt, die nach dem Tod seiner Frau untergegangen war, viel von seinem Schmerz und seiner Unfähigkeit, ins Leben zurückzukehren. Er gab weinerlich zu, schwach zu sein, von der Trauer um Maureen gelähmt. Er bat darum, man möge nicht nach ihm suchen, er sei kein Mensch mehr, mit dem man zu tun haben wolle. Die Briefe waren in hitziger Aufgelöstheit hingeschriebene Beichten und Rechtfertigungen, Abbitten und Anklageschriften gegen sich selbst und die Wendungen des Schicksals. Nirgendwo, auch nicht zwischen den Zeilen, stand, dass er so etwas wie Sehnsucht nach seinem Sohn hatte. Aber es stand auch nirgends, dass er Wilbur für den Tod seiner Mutter verantwortlich machte. Das Fehlen dieses Vorwurfs war es gewesen, das Wilbur den Mut hatte aufbringen lassen, die Reise zu unternehmen.
Die Briefe stammten alle aus dem Jahr 1985. Wilbur fragte sich, ob Orla sie gelesen hatte oder ob Eamon, der zu jener Zeit vermutlich noch bei Verstand war und jeden Morgen auf den Postboten wartete, sie ihr vorenthalten hatte. Er fragte sich, ob Orla etwas unternommen hätte, um ihren Schwiegersohn zu finden, oder ob sie seinen Wunsch, mit seiner Trauer alleine gelassen zu werden, respektiert hätte. Der Gedanke, sein Vater könnte inzwischen tot sein, war ihm schon zu Hause gekommen, und jetzt, so nahe am Ziel, wünschte er sich fast, es wäre so. Etwas von der Wut, die ihn nach dem ersten Lesen der Briefe erfüllt hatte, stieg wieder in ihm hoch, und er erinnerte sich an den in einem wirren Taumel von Verletztheit und Hass gefassten Plan, seinen Vater aufzuspüren und zu töten. Conor fiel ihm ein, der auf seinen Vater geschossen hatte, und dass es leicht ausgesehen hatte, abzudrücken.
Er verstaute die Briefe in der Reisetasche, warf das angebissene Sandwich und die halbleere Packung Saft in einen Abfalleimer und machte sich auf die Suche nach dem Postamt. Dort blätterte er im Telefonbuch und fand unter Sandberg zwei Einträge, doch keiner gehörte zu seinem Vater. Er schrieb den Namen auf ein Stück Papier und schob es dem Mann hinter dem Schalter zu. Jetzt wünschte er sich, er hätte das Bild dabeigehabt, das Orla ihm damals gegeben hatte und das Lennard Sandberg vor einem Haus in Philadelphia stehend zeigte. Wilburs Mutter hatte das Foto gemacht und, zusammen mit anderen, Orla geschickt. Lennard trug einen hellen Anzug, Hut und Krawatte, und sein Lächeln war irgendwie schief, vielleicht auch nur die Grimasse, die beim Blick in die Sonne entsteht. Er war groß und schlank, seine Schultern hingen ein wenig, beide Hände steckten in den Hosentaschen. Das Haus im Hintergrund, ein mit weißen Holzschindeln verkleideter Bungalow, leuchtete im Licht, im Rasen steckte ein Schild mit der Aufschrift FOR RENT. Wilbur hatte das Bild eine Weile behalten, aber weil ihn immer, wenn er es hervornahm und betrachtete, eine Woge aus Traurigkeit und Wut überschwemmte, hatte er es irgendwann zerrissen und die Fetzen weggeworfen.
Der Schalterbeamte sagte etwas auf Schwedisch, und Wilbur zuckte mit den Schultern und antwortete:»English?«Der Mann schüttelte den Kopf, zeichnete einen Plan auf ein Blatt Papier, schien dem Gewirr aus Linien, Kreuzen und Pfeilen nach einer Weile selber nicht mehr folgen zu können, zerknüllte das Papier und lächelte beschämt. Dann rief er einen Namen durch die offene Tür hinter sich, worauf eine junge Frau mit einem Stapel Briefen in den Händen erschien. Der Mann sagte etwas zu ihr, aus dem Wilbur nur den Namen seines Vaters heraushörte. Die Frau sah Wilbur an, legte die Briefe in ein Regal, schlüpfte unter einer Klappe in der Theke durch und ergriff Wilburs Hand.
Das Haus war in einem blassen Türkis gestrichen und stand zwischen anderen eingeklemmt in einer Straße, die für den Autoverkehr gesperrt war und deren Belag alle paar Meter wechselte, von Asphalt zu Teer, von Naturstein zu Kies und wieder zu Asphalt. Neben einem Haufen Steine stand eine mit Sand gefüllte Schubkarre, in der Zigarettenkippen steckten. Ein paar Schilder, die auf eine Baustelle hinwiesen, lehnten an einer Mauer, ein löchriger Handschuh zierte das Ende eines Schaufelstiels. Die junge Frau sprach ein verkümmertes Schulenglisch und war neben ihm hergegangen wie eine schüchterne Fremdenführerin, die sich für den fehlenden Unterhaltungswert ihrer Tour schämt. Jetzt zeigte sie auf das Haus und sprach den Namen von Wilburs Vater aus. Dann sagte sie etwas, das Wilbur nicht richtig verstand, wiederholte es leicht verändert und lächelte, als Wilbur nickte, obwohl er auch den Sinn der zweiten Aussage nicht begriff. Sie sah ihn an, bis er noch einmal nickte, dann trat sie vor die Tür und drückte auf den Klingelknopf. Das Schrillen ging Wilbur durch Mark und Bein, und wie schon mehrmals zuvor an diesem Tag, verschlug ihm die Angst vor dem Wiedersehen mit seinem Vater fast den Atem. Er schwitzte, und die Tasche erschien ihm plötzlich so schwer, dass er sie zwischen seine Füße auf den Boden stellte. Während sie warteten, las Wilbur den Namen auf dem Türschild und war erstaunt, ihn als Nordahl zu entziffern. Bevor er fragen konnte, wurde die Tür geöffnet.