Der Mann, der vor ihm stand, war groß und breit und hatte rotbraunes, dichtes Haar, das ihm bis auf die Schultern fiel, und einen Bart in derselben Farbe. Er trug ein altes Paar Jeans und über einem weißen T-Shirt ein kariertes Hemd, das nicht zugeknöpft war und über die Hose hing. Er hatte einen runden Kopf und große Hände und war nie im Leben Lennard Arne Sandberg. Die junge Frau und er wechselten ein paar Sätze, dann verabschiedete sich Wilburs Führerin und ging die lange Baustelle entlang zurück zur Post. Der Mann sah Wilbur mit einer Mischung aus Verwunderung, Skepsis und Freude an, wie jemand, der vor seiner Haustür eine mit einer Geschenkschleife verzierte skurrile Skulptur findet. Er trat zur Seite, machte eine ausholende Armbewegung ins Dunkel des Flurs und bat Wilbur in beinahe akzentfreiem Englisch herein. Wilbur zögerte, doch dann folgte er dem Mann ins Haus und zuckte nicht einmal zusammen, als sich hinter ihm die Tür schloss.
Sune Nordahl war mit Lennard Sandberg zur Schule gegangen. Er war ein schlechter Schüler gewesen, Lennard einer der besten. Seine Familie war arm, die seines Freundes zwar nicht reich, aber dank des gutgehenden Eisenwarenladens frei von finanziellen Sorgen. Lennard schenkte seine Pausenbrote, hartgekochten Eier, Kuchenstücke und Äpfel dem ewig hungrigen Freund, dessen Körper in die Höhe und Breite wachsen wollte und der Nahrung verschlang wie ein Heizkessel Kohle. Zu Hause wurde Lennard gezwungen, seinen gefüllten Teller leer zu essen, und er tat es unter großen Anstrengungen. Dennoch blieb er mager und farblos, und weder drei tägliche Löffel Lebertran noch literweise frische Ziegenmilch vermochten daran etwas zu ändern.
Lennards Mutter Selma, eine kleine, stämmige Frau, die sich als Bauernkind mit fünf Geschwistern um Brot und Butter gebalgt hatte, war es ein Rätsel, weshalb ihr Sohn nicht endlich Pfunde zulegte und eine Haut bekam, die nicht aussah wie das Gänseschmalz, das sie ihm auf die Frühstücksbrote schmierte. Dann fiel ihr Blick auf ihren großen, schlaksigen Mann mit der hellen, von Sommersprossen und Leberflecken gesprenkelten Haut, und sie wusste, wen die Schuld traf.
Magnus Sandberg musste in alten Häusern den Kopf einziehen, wenn er unter einer Tür durchging, und sein hageres Gesicht lag unter einem Bart verborgen, dessen Üppigkeit an die Schwarzweißbilder der Gründer von Nora erinnerte. Seine Finger waren lang und von winzigen Schnitten und Kratzern übersät, und wenn er, ohne auf einen Schemel zu steigen, eine Schraube aus einer der obersten Schubladen nahm, sahen sie aus wie Insektenbeine, die eine Beute festhalten.
Lennard wählte Sune zum Freund, weil er jemanden brauchte, der ihm die Rüpel vom Leib hielt, die geheime Welt der Mädchen eröffnete und an den schulfreien Nachmittagen Orte zeigte, die auf Lennards Karte weiße Flecken waren. Weil er sich nicht vorstellen konnte, dass irgendwer sein Freund sein wollte, verlangte er alle paar Wochen eine Art Treueschwur, und einmal musste Sune sich Lennards Initialen mit einem Taschenmesser in die Handfläche ritzen, bevor er sein Wurstbrot und den Apfel bekam. Sune hatte nichts gegen diese Beweisrituale, solange er nicht mit leerem Bauch im Unterricht saß. An das kurz aufblitzende Gefühl von Scham, das ihn beim Verschlingen von Lennards Essen befiel, hatte er sich schon lange gewöhnt. Diese kleine Erniedrigung war besser, als den Spott der Mitschüler zu ertragen, wenn er das Klassenzimmer mit den gurgelnden Geräuschen seines unterbeschäftigten Magens füllte.
Sein Vater war ein stiller, in sich gekehrter Mann, der als Gehilfe des Dorfschmieds gearbeitet hatte. Nach dessen Tod fuhr ein neuer Schmied aus Karlskoga mit seinem Lieferwagen zu den Höfen, und Sunes Vater nahm Aushilfsarbeiten an, die nie lange dauerten. Die Leute legten ihm sein Schweigen als Unfreundlichkeit aus, und als jemand das Gerücht verbreitete, er sei ein Wilderer und Dieb, der den Bauern neugeborene Lämmer von der Weide holte, wollte ihn niemand mehr beschäftigen. Er begann aus Holz Figuren zu schnitzen, Einhörner und Waldwesen, gebückte Trolle, denen er ein Stückchen Katzengold in die Hände legte, und Gnome mit Spitzhüten, die einen Kessel voll lackierter Flusssteinchen umschlangen. Oft saß er tagelang im Schuppen neben dem Haus und verließ ihn nur, um mit dem Bus nach Örebro zu fahren, wo er sein Monatswerk an einen Laden verkaufte.
Sunes Mutter hatte Heimweh nach Finnland, woher sie stammte, und jedes Jahr an ihrem Geburtstag stand sie mit zwei gepackten Koffern im Hausflur, schwankend unter dem Einfluss von Alkohol, Schuldgefühlen und einer verbrauchten Euphorie, die in ihr schwelte wie die Reste eines sich selbst überlassenen Feuers. Nachdem sie mehrere Stunden lang geweint und die Tür angestarrt hatte, als würde diese sich gleich öffnen und ihr Vater sie bei der Hand nehmen und nach Hause führen, ging sie ins Schlafzimmer, räumte ihre Sachen zurück in den Schrank, legte sich aufs Bett und verschlief ein weiteres Jahr.
Henrik, einer von Lennards Onkeln mütterlicherseits, lebte seit fast zwanzig Jahren in Philadelphia, wo er und seine Frau Katarina mit einer Reinigungsfirma zu beträchtlichem Wohlstand gekommen waren. Weil die beiden keine eigenen Kinder haben konnten, behandelten sie Lennard, den sie während eines Heimatbesuchs als Dreijährigen gesehen hatten, wie ihren Sohn, und an seinem achtzehnten Geburtstag luden sie ihn ein, sie zu besuchen. Damals arbeitete Lennard seit zwei Jahren im elterlichen Geschäft, das er einmal übernehmen sollte, und Sune half im Lager aus, erledigte Botengänge und kehrte jeden Feierabend den Boden des Ladens und den Gehsteig davor.
Lennards Eltern fanden keinen Gefallen an der Idee, ihren Sohn in ein Land reisen zu lassen, das so weit weg lag, sich in einem Krieg befand und außerdem Keimzelle der verstörenden Musik war, die manchmal aus Sunes Transistorradio durch die Tür des Lagerraums drang. Aber Lennard ließ sich die Möglichkeit, der Enge Noras und der Ereignislosigkeit Västmanlands zu entfliehen, nicht entgehen, und er nahm das Geld des Onkels, kaufte damit statt eines Flugtickets zwei Karten für eine Überfahrt auf dem Schiff und schleppte Sune mit wie ein schweres Stück Gepäck.
Philadelphia war riesig, laut und schmutzig, und es war großartig in den Augen der beiden Jungen vom Land, die sich in der Stadt bewegten wie Astronauten auf einem fremden Stern. Lennard, dessen Entschluss, in Amerika zu bleiben, bereits nach wenigen Wochen feststand, ließ sich von Onkel Henrik in die wunderbare Welt der Buchhaltung einführen, während Sune mit einem der fünf Putztrupps loszog, um Büroböden zu polieren und von Schaufenstern in der Innenstadt schwarzen Ruß zu waschen. In seiner Freizeit fuhr Lennard mit Onkel Henrik und Tante Katarina im silbernen Lincoln durch die Stadt, ging mit ihnen ins Planetarium, in Museen und an historische Orte, und mit jeder Sehenswürdigkeit, die ihm mit schwedisch-amerikanischem Stolz vorgeführt wurde, schwanden seine Erinnerung an die alte Heimat und der Wunsch, dorthin zurückzukehren.
In langen Briefen nach Hause pries er Philadelphia und sein neues Leben mit Worten, die seine Eltern im Lexikon nachschlagen mussten, um sie zu verstehen. Am Telefon malte er die Bilder der kommenden Jahre so fiebrig, dass sein Vater die Bemühungen, ihn für die Weiterführung des Eisenwarenladens zu gewinnen, bald aufgab. Seine Mutter hielt die Hoffnung noch eine Weile aufrecht, aber wenn ihr Sohn vom baldigen Kauf eines gebrauchten Wagens oder der geplanten Beantragung einer Arbeitserlaubnis erzählte, wurde auch sie stumm und brach nach dem Auflegen in Tränen aus.