Es dauerte ein halbes Jahr, bis seine Eltern Lennards Entscheidung als unwiderruflich akzeptierten, und auch dann fehlte ihnen das Verständnis, sie zu billigen. In ihren Augen hatte sich ihr Sohn des Verrats schuldig gemacht. Aus einer jugendlichen Laune heraus und aufgewiegelt von rebellischer Musik, kehrte er der Familie den Rücken und gab eine gesicherte Zukunft in der Heimat auf, um fernab seiner Wurzeln fragwürdigen Träumen nachzujagen. Sie waren so enttäuscht und verbittert, dass sie die Briefe aus Philadelphia weder lasen noch beantworteten und bei den immer spärlicher werdenden Anrufen ihres Sohnes nur noch einsilbig bestätigten, am Leben zu sein. Schließlich legten sie wortlos auf, wenn Lennard sich meldete. Ihr einziger Sohn war für sie gestorben, ebenso Henrik und Katarina, die an allem die Schuld trugen.
Sune, der mietfrei über der Garage neben dem Haus wohnte, lebte sein eigenes Leben. Nach der Arbeit trank er bisweilen ein Bier mit den Kollegen, von denen alle, bis auf zwei schwermütige Brüder aus Iowa, mexikanische Einwanderer waren. Bei schönem Wetter setzte er sich an den Abenden in einen Park und sah den Softballspielen zu, einer familientauglichen Version von Baseball, deren Regeln für ihn so rätselhaft waren wie die des Originals. An den Wochenenden kam es gelegentlich vor, dass er und Lennard gemeinsam etwas unternahmen, im Bus und in der U-Bahn herumfuhren, ins Kino gingen oder in eine der Bars, wo man Frauen, die sich auf der Bühne auszogen, Dollarnoten ins Höschen stecken konnte. Sie sahen sich die Villen reicher Leute an, saßen an verregneten Nachmittagen in Dauervorstellungen alter Filme, witzelten verlegen über die künstlichen Brüste der Stripperinnen, waren nach drei Gläsern Bier betrunken und redeten von der Zukunft und Musik und Autos, wurden an der Luft wieder nüchtern und gingen schweigend nebeneinander her und merkten, dass sie sich allmählich aus den Augen verloren und keiner von ihnen die Energie aufzubringen bereit war, diesen Prozess anzuhalten.
Sune war nicht mehr von Lennard abhängig, er verdiente genug, um den kleinen Kühlschrank unter dem Garagendach zu füllen und in einem Billiglokal an einem Abend mehr zu essen, als seine Mutter ihm in einem ganzen Monat gekocht hatte. In Schweden hatte die beiden Kinder ein Bündnis zusammengehalten, das auf dem Tausch von Essen gegen Schutz und Ausflüge in unbekannte Welten beruhte, doch hier war alles anders, und ihnen wurde immer stärker bewusst, dass eigentlich nichts sie verband, nicht einmal Freundschaft.
Kein Jahr nach seiner Ankunft in Amerika wurde Sune während der Arbeit in einem Fitnesscenter verhaftet. Er wischte gerade den Boden in einem der Umkleideräume, als die Männer der Einwanderungsbehörde hereinstürmten wie Schuljungs nach der Turnstunde. In der Abschiebehaft durfte er einen Anruf tätigen und rief Lennard an, weil ihm sonst niemand einfiel. Lennard wollte seinen Onkel dazu bringen, einen Anwalt einzuschalten, aber Sune redete es ihm aus, wünschte ihm viel Glück und legte auf. Am folgenden Tag wurde er in eine Maschine gesetzt, die ihn nach New York brachte, dann in eine mit dem Ziel Stockholm. Sune war über seine Abschiebung nicht unglücklich. Er hatte nie vorgehabt, in Amerika zu bleiben, und in manchen Nächten, während derer er schlaflos in seinem Bett lag und unter ihm der abkühlende Motor des Lincoln knackte, dachte er an Nora und vermisste es. Er hatte Sehnsucht nach den endlosen Feldern, der Stille, die nur vom Schlagen der Kirchturmglocken gestört wurde, nach den Seen, die in seinen Kindertagen Meere gewesen und später zu langweiligen Tümpeln verkommen waren, und er hatte sogar Sehnsucht nach seinen Eltern. Seine Mutter lebte inzwischen wieder in Finnland. Ihr Vater, auf den sie so lange vergeblich gewartet hatte, war einen Monat nach Sunes Abreise gestorben, und sie war von der Beerdigung nicht zurückgekehrt.
Sunes Vater schnitzte noch immer Fabeltiere und Trolle, und er weinte, als sein Sohn an einem warmen Oktoberabend in den Schuppen trat. Lennards Eltern gaben Sune seine alte Arbeit im Lagerraum zurück, und als immer mehr gesundheitliche Probleme sie plagten, stand er unversehens in einer blauen Schürze hinter dem Tresen und bediente die Kundschaft, während sein Vater nebenan neue Lieferungen auspackte und einräumte und das Schnitzen auf die Wochenenden verlegte.
Marklund’s Marvellous Cleaners hatte bereits einige Jahre zuvor wegen einer Handvoll illegal arbeitender Mexikaner Schwierigkeiten mit den Behörden gehabt, und Sunes Verhaftung schadete der Firma nur deshalb nicht, weil Henrik inzwischen ein angesehener Bürger und pünktlicher Steuerzahler war und zudem ein paar der richtigen Leute kannte. Er war Sponsor der Jugendbibliothek, der Seniorentanzhalle und der Tierauffangstation, war Vizepräsident des Millpark Country Clubs und im Vorstand des Vereins zur Erhaltung historischer Gebäude. Dass seine Putztrupps unentgeltlich die Reinigung von Räumlichkeiten mehrerer gemeinnütziger Organisationen übernahmen, war die weniger reumütige als existenzerhaltende Konsequenz aus der Schwarzarbeiter affäre gewesen und half der Firma jetzt erneut im Kampf um Pluspunkte bei den Behörden.
Als Henrik vorgeladen wurde, versicherte er den Beamten recht glaubhaft, dass Sune nicht wirklich für ihn gearbeitet, sondern lediglich ab und zu eingesprungen sei, wenn Not am Mann war. Sune Nordahl sei ein stolzer junger Mann und habe auf dieser Hilfe bestanden, als Gegenleistung für Unterkunft und Verpflegung und als Dank für die Möglichkeit, im christlichen, von Fleiß und Landesliebe geprägten Familienverband der Marklunds ein aufrechter Amerikaner zu werden. Die Tatsache, dass Sunes Touristenvisum seit mehr als acht Monaten abgelaufen war, konnte Henrik zwar nicht widerlegen, er schaffte sie aber diskret aus der Welt, indem er größere Summen an ausgesuchte leitende Beamte bezahlte, die sich ihrem Berufsethos weniger verpflichtet fühlten als den Wünschen ihrer anspruchsvollen Frauen und Geliebten.
Mit diesen Zuwendungen war der geheime Fonds für Notfälle der Firma Marklund ebenso erschöpft wie Henriks kriminelles Potential. Noch immer erleichtert darüber, dass es statt Lennard den ambitionslosen Sune getroffen hatte, hörte er auf seinen Anwalt, der ihm riet, den Neffen eine Weile von der Firma fernzuhalten, um dessen Chancen auf eine Green Card nicht zu gefährden. Lennard wurde für drei Monate nach Vancouver geschickt, wo er morgens auf einem geliehenen Fahrrad die Stadt erkundete und nachmittags in einer Schule für Ausländer sein Englisch perfektionierte. Nach seiner Rückkehr aus Kanada absolvierte er einen Test, und dank der Tatsache, dass er eingebürgerte Verwandte in Amerika hatte, die ihm einen Job in ihrer Firma anboten, erhielt er kaum sechs Wochen später eine offizielle Aufenthaltsbewilligung.
Jetzt, da die Gefahr der Entdeckung gebannt war, stürzte Lennard sich mit doppelter Hingabe in die Arbeit. Sein Englisch war so gut, dass er mit dem Steuerberater diskutieren, mit Kunden verhandeln und unter Henriks staunenden Blicken den Lieferanten von Reinigungsmitteln bessere Konditionen abringen konnte. Er kam morgens als erster ins Büro und verließ es abends als letzter. Wenn es nötig war, arbeitete er an den Wochenenden und behauptete Henrik gegenüber, das Wort Urlaub habe man ihm in Kanada nicht beigebracht. Er reparierte den Fotokopierer und strich die Wände seines Büros neu, er übersetzte die Gebrauchsanweisung einer Poliermaschine vom Englischen ins Spanische, damit die Putzkolonnen die teure Neuanschaffung nicht ruinierten, er erfand griffige Werbeslogans, holte Aufträge herein und steigerte den Umsatz um fünfundzwanzig Prozent. Onkel Henrik liebte ihn dafür so sehr, dass er Visitenkarten drucken ließ, auf denen, unter dem Firmenlogo und in Prägeschrift, LENNARD A. SANDBERG VICE PRESIDENT stand.