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Alles lief wunderbar, der Junge aus Nora träumte den amerikanischen Traum mit offenen Augen, die Welt gehörte ihm.

Nur Tante Katarina spürte, dass Lennard etwas fehlte. Und sie wusste auch genau, was es war. Die Frau, die sie für ihren Neffen aussuchte, war die Tochter eines Zahnarztes und einer Immobilienmaklerin, ein Jahr älter als Lennard und hübsch genug, dass ihr reiches Elternhaus nicht als Entschädigung herhalten musste. Sie hieß Deborah Shuler und studierte Betriebswissenschaften und Politik an der University of Philadelphia. Tante Katarina arrangierte ein Essen in einem der besten Restaurants der Stadt, und sie ließ es Lennard gegenüber so aussehen, als treffe man Frank und Audrey Shuler und deren Tochter rein zufällig. Deborah war nett und intelligent und nach dem dritten Glas Wein sogar gelegentlich witzig, und Lennard schien ihren Ausführungen zur aktuellen Wirtschaftslage und dem Krieg in Vietnam aufmerksam zu lauschen. Tante Katarina und Onkel Henrik und die Shulers beobachteten mit Wohlgefallen, wie gut sich die beiden unterhielten.

Lennard verliebte sich an diesem Abend tatsächlich. Nur war es nicht Deborah Shuler, an die er sein Herz verlor, sondern eine irische Kellnerin namens Maureen McDermott. Die zierliche Frau mit dem braunen, von mehreren Spangen und Klammern gebändigten Haar und dem Make-up, das aussah, als sei es in aller Eile und ohne große Sachkenntnis aufgetragen worden, betrat den Speisesaal nur ein einziges Mal, um ihrer Kollegin beim Abräumen zu helfen, brachte es dabei aber fertig, mit einem Stapel Teller in den Armen über Deborahs Handtasche zu stolpern, im Fallen einen lauten Fluch auszustoßen und der Länge nach hinzuschlagen. Nach einer Schrecksekunde, während der die Kellnerin sich aufgerappelt hatte, bemühten sich die Marklunds und Shulers peinlich berührt, dem Missgeschick und den Blicken der anderen Gäste keine weitere Beachtung zu schenken, und nahmen das Gespräch über die bemannte Raumfahrt wieder auf, wobei sich vor allem Henrik und Frank ins Zeug legten. Nur Lennard konnte es nicht lassen, immer wieder nach der Frau zu schielen, die neben ihm kauerte, schmutzige Teller einsammelte und mit einer Stoffserviette die Soßenflecken auf dem Teppichboden verrieb.

Lennard hatte sich in seinem Leben schon mehrmals verliebt, angefangen in der ersten Klasse, als Anna Linderoth ihm den Kopf verdrehte, aber noch nie zuvor war er von der Nähe eines weiblichen Wesens so in innere Aufruhr versetzt worden wie an diesem Abend. Das wunderbare Geschöpf wollte gerade die Teller in die Küche tragen, als Deborah einen Fleck auf ihrer Handtasche entdeckte. Der Soßenspritzer wurde von allen am Tisch begutachtet und dann der Kellnerin unter die Nase gehalten. Maureen entschuldigte sich und streckte die Hand mit der Serviette aus, aber Deborah zog die Tasche entsetzt zurück und presste sie an die Brust. Der Geschäftsführer, dem die Aufregung im Speisesaal nicht entgangen war, kam herbei und wurde von Audrey Shuler über den Fall ins Bild gesetzt. Nachdem er den Fleck auf der Handtasche inspiziert hatte, als handle es sich um ein Einschussloch, versicherte er Deborah, das Restaurant werde für den Schaden aufkommen. Zudem bot er an, Nachtisch und Kaffee auf Kosten des Hauses servieren zu lassen.

Damit wäre die Sache erledigt gewesen, hätte Maureen nicht mit der trotzigen Stimme eines zu Unrecht getadelten Mädchens gemurmelt, die verfluchte Tasche habe im Weg gestanden, weshalb die verdammte Schuld nicht bei ihr, sondern bei der eingebildeten Zicke liege. Deborah und ihre Eltern waren über diese unflätige Bemerkung fassungslos, und der Geschäftsführer verlangte von Maureen eine Entschuldigung. Aber die Frau, die mittlerweile zum Zentrum des allgemeinen Interesses geworden war, dachte nicht im Traum daran und verwies auf ihren Knöchel, den sie sich beim Sturz verknackst hatte. Der Geschäftsführer, ein in Frack gekleideter, graumelierter Mittfünfziger, stand erst völlig entgeistert da und lächelte dann wie ein Vater, dessen Kind statt der Weihnachtsgeschichte einen zotigen Witz erzählt hat, fasste sich schließlich und schob Maureen, die zu diesem Zeitpunkt bereits keine Kellnerin mehr war, eilig aus dem Saal. Wenig später ertönte aus einem entfernten Raum, der die Küche sein musste, ein lautes Klirren, das sich nach dem Zerbrechen etlicher Teller anhörte, und während alle am Tisch empört tuschelten und den Kopf schüttelten, wusste Lennard, dass er die Frau seines Lebens gefunden hatte.

Am nächsten Tag fuhr Lennard in seinem gebrauchten goldfarbenen Buick Skylark, den er eine Woche zuvor gekauft hatte, zu dem Restaurant und schaffte es, durch eine der Küchenhilfen Maureens Adresse herauszufinden. Sie wohnte in einem Zweizimmerapartment in einem Viertel, durch das Lennard und Sune früher mit dem Bus gefahren waren und das seit Jahren in einem Zustand zwischen Vernachlässigung und Verfall stagnierte. Die von Abfall gesäumten Straßen waren voller Schlaglöcher, Ampeln funktionierten nicht, und Verkehrsschilder waren mit Farbe beschmiert. Trotzdem fuhren Autos, und alle paar Wochen tauchte ein städtisches Reinigungsfahrzeug oder ein Tankwagen voll flüssigen Teers auf und betrieb ein wenig Kosmetik. Die Häuser befanden sich teilweise in erbarmungswürdigem Zustand, und von den Lampen, die zwischen den Fassaden an Leitungen hingen, brannte nur jede dritte, aber es kam auch immer wieder vor, dass plötzlich und wie durch ein Wunder Löcher verputzt, Mauern neu gestrichen und Glühbirnen ausgewechselt wurden.

Maureens Wohnung lag über einem Geschäft, dessen einzige Schaufensterscheibe mit Packpapier abgedeckt war und vor dem es sich ein streunender Hund bequem gemacht hatte. Es erstaunte Lennard, dass in einer solchen Gegend die Tür zum Treppenhaus nicht abgesperrt war und jeder, der wollte, den dunklen Flur betreten konnte. Was ihn nicht verwunderte, waren die defekte Klingel und das Fehlen einer Gegensprechanlage, doch er war froh über diese technische Rückständigkeit, denn noch während er die Stufen emporstieg, wusste er nicht, wie er die Frage, was er wolle, beantworten sollte.

«Weißt du, was er gesagt hat?«fragte Sune und füllte Wilburs Glas erneut mit Limonade. Wilbur schüttelte den Kopf. Er saß in Sune Nordahls Küche und sog die Geschichte seiner Eltern auf wie ein vertrockneter Boden den Regen. Sune stand am Herd und kochte Abendessen. Wann immer die Pfannen und Töpfe es erlaubten, drehte Sune sich um und erzählte, als habe er jeden Satz, jede Wendung, jede Betonung und jede Pause jahrelang einstudiert und nur darauf gewartet, dass Wilbur von weit her kommen, sich hinsetzen und zuhören würde. Er stellte sich hin und spielte Lennard, der nach Jahren doch noch sein Freund geworden war, versteckte den Kochlöffel hinter dem Rücken und sagte zu Maureen, die die Wohnungstür geöffnet hatte und ihn mit einem Blick, in dem Wiedererkennen und Skepsis lagen, ansah:»Mein Name ist Lennard Arne Sandberg, und ich liebe Sie!«Sune streckte Wilbur den Kochlöffel entgegen wie einen Blumenstrauß, und als der Junge irritiert zurückwich, lachte er und stampfte mit dem Fuß auf.»Genau so hat deine Mutter auch reagiert!«

Sune erzählte gerade, dass Lennard ganze fünf Wochen brauchte, bevor er Maureen zum ersten Mal küssen durfte, als Ulrika hereinkam. Sie war beinahe so groß und breit wie Sune, und nach ihrem Eintreten war in der engen Küche kein Platz mehr. Sune stellte ihr Wilbur vor, der zwar froh war, dass ihm Details zum ersten Kuss seiner Eltern erspart blieben, aber dennoch darauf brannte zu erfahren, wie ihr gemeinsames Leben vor seiner verhängnisvollen Geburt weiter verlaufen war. Ulrika war Sunes Freundin und konnte, nachdem sie von Wilburs Suche nach dem Vater hörte, einen Tränenausbruch nur vermeiden, indem sie in holprigem Englisch etwas von vergessenen Einkäufen murmelte und aus der Küche floh. Nach einem Moment des Zögerns verwarf Sune den Gedanken, ihr zu folgen, und horchte lächelnd auf die schweren Schritte, die das hölzerne Treppenhaus erschütterten, und das dumpfe Schlagen der Haustür.»Frauen«, sagte er, und Wilbur nickte, als wisse er Bescheid.